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Linken-Abgeordnete zur Bürgergeld-Reform„Wer Arme gegeneinander ausspielt, schützt Reiche vor Kritik“

Cansın Köktürk findet die Regierungspläne „menschenverachtend“. Als Sozialarbeiterin habe sie erlebt: Sanktionen helfen niemandem auf die Beine.

Cansin Köktürk auf dem Weg zur 21. Bundestagssitzung am 11. September Foto: dts-Nachrichtenagentur/imago
Tobias Schulze

Interview von

Tobias Schulze

taz: Frau Köktürk, die Reformpläne fürs Bürgergeld werden konkret. Ein Gesetzesentwurf der Regierung wurde letzte Woche öffentlich. Wenn Sie einen Paragrafen daraus ändern könnten: Welcher wäre es?

Cansın Köktürk: Ich würde den kompletten Gesetzesentwurf ändern. Er verstößt gegen das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Sozialstaatsprinzip ist im Grundgesetz als Staatsziel verankert, der Gesetzgeber muss sich also um die soziale Sicherheit der Bürger kümmern. Die Merz-Regierung greift mit ihren Sanktionsplänen aber das Existenzminimum an. Es ist auch beschämend, dass groß mit Sparplänen geworben wurde, obwohl sich herausstellt, dass kaum etwas eingespart wird. In Wahrheit geht es um Macht und darum, Stimmung gegen die Schwächsten zu machen, um von den echten Problemen in unserer Gesellschaft abzulenken.

taz: Zu den Sanktion ist in der sogenannten Neuen Grundsicherung unter anderem vorgesehen, dass keine Zahlungen mehr erhält, wer mehrmals hintereinander Termine im Jobcenter verpasst. Nach Ansicht des Sozialministeriums von Bärbel Bas ist das verfassungsrechtlich zulässig.

Köktürk: Bas argumentiert: Wer mitmacht, hat nichts zu befürchten. Die Realität ist aber anders. Wenn jemand einen Termin nicht wahrnimmt, hat das nicht zwangsläufig etwas damit zu tun, dass er faul ist. Oft können Menschen wegen Erkrankungen nicht kommen oder weil Betreuungsplätze für ihre Kinder fehlen. Die neuen Regeln werden dazu führen, dass diese Menschen noch tiefer in die Armut rutschen – und sogar in die Obdachlosigkeit, weil auch die Miete von den Sanktionen betroffen ist.

Im Interview: Cansın Köktürk

32, stammt aus dem Ruhrgebiet und sitzt seit diesem Jahr für die Linken im Bundestag. Sie ist sozialpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Zuvor war sie in der sozialen Arbeit tätig und leitete eine Notunterkunft. Zwei Jahre lang war sie Mitglied der Grünen, aus Protest gegen deren Regierungspolitik trat sie 2023 aber aus der Partei aus.

taz: Die Miete soll aber erst im letzten Schritt gestrichen werden. Kann der Staat nicht von Leis­tungs­emp­fän­ge­r*in­nen erwarten, innerhalb mehrere Monate zumindest einmal im Jobcenter aufzutauchen?

Köktürk: Ich habe zehn Jahre lang als Sozialarbeiterin gearbeitet und habe Menschen erlebt, die es wirklich nicht schaffen, zum Jobcenter zugehen. Ihre Briefkästen laufen über und sie sind mit der ganzen Bürokratie überfordert. Eine zusätzliche Hürde ist dann die institutionelle Diskriminierung in den Jobcentern, in denen leider oft mit einem herabwürdigenden Ton gearbeitet wird. Das ist keine Motivation zur Arbeit, sondern Ausgrenzung und Demütigung.

taz: Im Gesetzesentwurf ist doch von Härtefallregelungen bei den Sanktionen die Rede – und von besonderer Rücksicht auf psychisch Kranke.

Köktürk: Das ist richtig. Die Frage ist aber, wie die Regierung gewährleisten will, dass die Jobcenter das auch wirklich beachten. Bekommen sie eine klare Handlungsgrundlage oder wird es eine Ermessensentscheidung? Wird endlich sichergestellt, dass eingereichte Atteste nicht mehr plötzlich verschwinden? Hat es am Ende vor allem damit zu tun, welchen Sachbearbeiter man erwischt? Ob er gewillt ist, genau hinzuschauen? Und ob er die Zeit hat dafür? Die Jobcenter sind ja schon jetzt unterbesetzt.

taz: Das Ministerium beruft sich bei seinen Plänen selbst auf Rückmeldungen aus den Jobcentern. Das Personal habe bisher „praktisch kaum Handhabe bei hartnäckiger Terminverweigerung“.

Köktürk: Studien zeigen, dass Sanktionen keine nachhaltige Rückkehr in den Arbeitsmarkt fördern, sondern eher Betroffene noch weiter in existenzielle Not und psychische Belastungen stürzen. Überhaupt wird die Debatte falsch geführt: Wir tun so, als wären die meisten Menschen im Bürgergeldbezug Totalverweigerer. Wir kriminalisieren arme Menschen und stellen sie unter Generalverdacht. Über die wirklich entscheidenden Punkte sprechen wir aber nicht.

taz: Welche wären das denn?

Köktürk: Wir reden nicht darüber, warum Menschen überhaupt im Bürgergeld landen. Nicht individuelles Versagen ist das Problem, sondern politische Entscheidungen. Wir reden nicht über strukturelle Ursachen wie prekäre Löhne, unsichere Jobs, mentale Gesundheit oder langfristige Arbeitsvermittlung. Die Jobcenter haben zum Beispiel nicht genügend Geld für die Arbeitsvermittlung. Der Bedarf ist höher als das, was die Bundesregierung zu investieren bereit ist. Aber dann will sie Menschen bestrafen, die unpassende Jobangebote ablehnen.

taz: Wer ein Stellenangebot ablehnt, soll laut dem Gesetzesentwurf ebenfalls den kompletten Regelsatz verlieren – und zwar sofort, nicht erst im Wiederholungsfall.

Köktürk: Es ist völlig legitim, eine Stelle abzulehnen, die nicht in die Lebensumstände passt. Ich kenne aus meiner Praxis Fälle, in denen Angebote wegen Erkrankungen oder persönlichen Umständen ausgeschlagen wurden. Statt Strafen bräuchte es eine bedarfsgerechtere Betreuung und auch mehr Investitionen in soziale Arbeit und in Personal in den Jobcentern. Damit könnte man unfassbar viele Türen öffnen. Wenn sich Menschen gesehen und gehört fühlen, nehmen sie ihr Leben eher wieder in die Hand.

taz: Wo kann eine Sozialarbeiterin konkret ansetzen, wenn jemand nicht ins Jobcenter kommt und keine Arbeit annehmen will?

Köktürk: Es kommt auf den Einzelfall an. Grundsätzlich fragt man erst mal, was der Mensch möchte und welche Ressourcen er überhaupt mitbringt. Niemand kennt ein Leben besser als der Mensch, der es lebt. Dann kann man gemeinsam Angebote durchschauen und zusammen eine Bewerbung schreiben. Ich habe in den zehn Jahren als Sozialarbeiterin etliche Menschen in Arbeit vermittelt, Jugendliche in Ausbildung vermittelt, Menschen in Wohnungen vermittelt. Was soziale Arbeit leisten kann, sollte viel mehr Beachtung finden.

taz: Sie sagen, dass die große Mehrheit einfach nur Hilfe braucht. Was ist aber mit denjenigen, die wirklich nicht arbeiten möchten und dafür keinen guten Grund haben? Braucht der Staat ihnen gegenüber denn gar keine Druckmittel?

Köktürk: Man kann tatsächlich nicht in jedem Fall helfen. Es gibt Menschen, die man nicht mehr erreicht. Aber auch das hat Gründe. Und deshalb bin ich überzeugt, dass Bestrafung nicht der richtige Weg ist. Niemand zieht sich aus der Gesellschaft zurück, weil er unfassbar glücklich ist. Jeder Mensch hat ein Recht auf ein würdiges Leben. Es ist nicht nur verfassungswidrig, wenn die Regierung das Existenzminimum angreift. Es ist auch moralisch nicht tragbar, Menschen nach ihrem Nutzen einzustufen.

taz: In Umfragen gibt es aber eine Mehrheit für schärfere Regeln und die Regierung argumentiert: Wenn wir diesem Mehrheitswillen nicht nachkommen, ist die Akzeptanz für den Sozialstaat insgesamt in Gefahr. Ist da nicht etwas dran?

Köktürk: Seit Jahrzehnten erzählen uns Politiker und Medien das gleiche Märchen: Armut sei selbstverschuldet, der Sozialstaat sei zu teuer und die Menschen bräuchten Anreize, um arbeiten zu gehen. Diese neoliberale Erzählung hat sich tief in die Köpfe eingeschlichen und lenkt von den wahren Ursachen sozialer Ungleichheit ab: ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung, ungleiche Bildungschancen, Reichtumskonzentration. Wenn dann noch Krisen dazukommen, richtet sich die Wut der Menschen nicht nach oben, sondern nach unten. Das ist politisch gewollt: Wer Arme gegeneinander ausspielt, schützt die Reichen vor Kritik. Niemand spricht über die Verantwortungslosigkeit der Überreichen.

taz: Die Regierung plant nicht nur Verschärfungen bei den Sanktionen, sondern auch bei den Wohnkosten. Das Jobcenter soll Mietkosten in bestimmten Fällen nicht mehr im gleichen Umfang erstatten wie bisher. Das finden Sie wahrscheinlich auch falsch?

Köktürk: Auch das ist menschenverachtend. Die Situation ist jetzt schon schwierig, vor allem, weil Sozialwohnungen fehlen. Ich habe lange eine Notunterkunft geleitet. Dort sind sogar Menschen im hohen Alter gelandet. Eine Containerunterkunft mit Gemeinschaftstoiletten – Sie können sich vorstellen, wie sich der gesundheitlich Zustand dieser Leute Tag für Tag verschlechtert hat. Aber das Sozialamt hat gesagt: Wir haben keine Wohnung, in die wir sie reinvermitteln können. Entsprechend gibt es auch für Menschen im Bürgergeld nicht genügend passende Wohnungen und sie müssen Mieten zahlen, die das Jobcenter dann nicht übernimmt.

taz: Schwarz-Rot will zudem das Schonvermögen absenken, das Menschen trotz Bürgergeld behalten dürfen. Wie wird sich das in der Praxis auswirken?

Köktürk: Das ist aus meiner Sicht kein Thema in dem Kontext. Die meisten Menschen, um die es hier geht, können sowieso nichts beiseite legen.

taz: Gibt es denn auch irgendetwas im Gesetzesentwurf, das Sie richtig finden?

Köktürk: Nein. Ich sehe in dem Entwurf nicht, wie Armut bekämpft wird. Ich sehe nicht, dass der Regelsatz für ein menschenwürdiges Leben reicht. Ich sehe keine Lösung dafür, Menschen aus dem Bürgergeld zu holen. Es ist lediglich ein Angriff auf die Menschenwürde.

taz: Der Zugang zu geförderter Beschäftigung soll einfacher werden und in den Jobcentern soll Gesundheitsberatung eine größere Rolle spielen. Ist das denn nichts?

Köktürk: Auf dem Papier ist das toll, aber in der Realität sieht es anders aus, denn auch dafür bräuchte es Geld und Personal. Die Investitionen kann ich bisher nicht sehen.

taz: Was ist Ihr Eindruck, wie die Debatte bei denjenigen ankommt, die es direkt betrifft?

Köktürk: Ich bin noch in Kontakt mit vielen Familien, die ich früher betreut habe. Sie machen sich alle sehr große Sorgen vor der Zukunft. Auch in E-Mails an mein Büro wird das deutlich. Wenn ständig verächtlich über Menschen gesprochen wird, die täglich ums Überleben kämpfen, dann braucht man sich nicht wundern, wenn sie wirklich zerbrechen. In der Notunterkunft, die ich geleitet habe, gab es mehrere Suizide. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, in dem ich vom ersten Suizid erfahren habe. Da habe ich verstanden, was es heißt, wenn Menschen nur nach ihrem Nutzen kategorisiert werden – ohne ihre Geschichte zu sehen und ohne Raum für Emotionen. Ich empfehle der Bundesregierung ein Praktikum in der Sozialen Arbeit. Wer echte Sicherheit und Veränderung will, muss mit den Betroffenen reden und nicht über sie.

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