■ Kommentar: Linke Leier
Mit den Verfassungsschutzberichten ist das so eine Sache. Je nach politischer Konjunkturlage rutschen die Beobachtungsobjekte mal nach vorne oder nach hinten. Kurzzeitig, als es in Deutschland zur Tagesmeldung gehörte, daß Immigranten gejagt und verbrannt wurden, rückten die Rechtsextremisten gleich hinter das Vorwort des Innensenators. Jetzt aber ist die Welt wieder in Ordnung: Wie gehabt sind Autonome Staatsfeinde Nummer 1.
Der Verfassungschutzbericht folgt der inneren Logik jeder Behörde, sich stets aufs Neue Legitimität zu verschaffen. Dafür müssen Popanze geschaffen werden, auch wenn manche der alten Feindbilder sich schon selbst überlebt haben. Nehmen wir doch einmal jene berühmt-berüchtigte autonome Szene. Deren kümmerliche Reste beschränken sich auf proletarisierte Underdogs, die mit einem Sammelsurium an ideologischen Versatzstücken ihre Flugblätter vollkritzeln. Die älteren Jahrgänge schieben ansonsten ganz brav die Kinderwagen durch den Kiez.
Beim Lesen des Berichts beschleicht einen das Gefühl, die Verfassungsschützer wüßten um diesen herben Feindverlust. Von Auflösungserscheinungen ist da die Rede, gerade dies mache die Autonomen noch unberechenbarer. Dabei fiel am 1. Mai die Randale in Kreuzberg aus, und nur am Prenzlauer Berg suchten wütende und im Zeitalter virtueller Realitäten aufgewachsene Kids nach einem handfestes Erlebnis. Die guten alten Zeiten aber sind irgendwie vorbei. Nur der Verfassungsschutz will es sich noch nicht so richtig eingestehen. Severin Weiland
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen