: Linke Kohlmeise
Der Künstler Gerd Stange will den Ort der ersten Hamburger Rede Rosa Luxemburgs wiederbeleben: im Wehbers Park lesen Peggy Parnass und Lena Stolze aus Luxemburgs „Briefen aus dem Gefängnis“
von Petra Schellen
Eigentlich bedarf es keiner Beweise mehr. Eigentlich ist längst bekannt, dass „Persönlichkeit“ ein Konstrukt, bestenfalls Wunschbild ist, und dass das Individuum durch Verfugung seiner Facetten zu einem vermeintlich harmonischen Ganzen nicht transparenter wird. Und dennoch – kompromisslose Persönlichkeiten wie Rosa Luxemburg eignen sich besonders gut zur Vereinnahmung durch verschiedene politische Lager, zumal sich die sozialistische Theorie Luxemburgs nicht immer mit der Marx‘schen deckte. Auch Lenins Diktaturbegriff lehnte sie ab: Sie forderte Freiheit auch des Andersdenkenden.
Bewusst missverstanden, instrumentalisiert und doch nicht in ihrer Gesamtheit erfasst sei Rosa Luxemburg bis heute, meint auch der Hamburger Künstler Gerd Stange, und vielleicht sei es kein Zufall, dass die naturliebende Facette der Luxemburg, die aus ihren „Briefen aus dem Gefängnis“ spricht, bislang kaum interessiert habe. An Sophie Liebknecht und ihre Sekretärin Mathilde Jacob sind die Briefe gerichtet, die zwischen 1915 und 1918 in Wronke bei Posen, später in Breslau entstanden.
Poetisch und mit großer Wärme schreibt Luxemburg darin von Pflanzen, Vögeln und Schmetterlingen – ein wenig überraschendes Thema, wenn man bedenkt, dass sie in Zürich nicht nur Ökonomie, Philosophie und Jura, sondern auch Zoologie studiert hatte. Trotzdem wurde dies in der Luxemburg-Rezeption bislang fast komplett ausgeblendet; die gesammelten „Natur“-Briefe an Sophie Liebknecht wurden zuletzt 1920 ediert. Goethe, Mörike und Hölderlin huldigt Luxemburg darin – zur politischen Vereinnahmung gänzlich ungeeignete Autoren, deren Timbre so gar nichts mit Luxemburgs radikalen politischen Forderungen gemeinsam hat.
Doch in die Bewertung der bislang einseitigen Rezeption möchte Gerd Stange vorerst gar nicht weiter einsteigen. „Mich interessiert dieser Aspekt zunächst deshalb, weil er noch wenig bekannt ist, und weil er Wesentliches über das Weltbild Rosa Luxemburgs aussagt.“ Auf fünf Jahre hat er sein Lese-Projekt angelegt, das sich mit einer Ortsbelebung der besonderen Art verbindet: Im „Arme-Leute-Garten“, dem Wehbers Park, wird morgen, am Geburtstag Rosa Luxemburgs, die erste Lesung aus den „Briefen aus dem Gefängnis“ stattfinden; rezitieren werden Peggy Parnass und Lena Stolze, die in Michael Verhoevens Film „Weiße Rose“ die Sophie Scholl spielte.
Der Park liegt gegenüber vom Vereinshaus Fruchtallee, das ehemals Sottorf hieß und in dem Luxemburg am 13. Dezember 1900 ihre erste Hamburger Rede über „Weltpolitik und Sozialdemokratie“ hielt. Als teils historische, teils ideelle Verknüpfung zweier Orte versteht Stange sein Projekt, soll das Gartenstück im Wehbers Park doch an den Zellgarten in Wronke erinnern, aus dem sich Luxemburgs naturpoetische Äußerungen speisten. Dort freute sie sich über den Gruß der Blaumeise, beobachtete die Krähen auf dem Weg zu ihrem Schlafbaum. Ein halbtotes Pfauenauge suchte sie mit Blüten zu trösten und litt entsetzlich darunter, dass Büffel zum Lastenziehen gezwungen und dabei blutig geschlagen werden: „Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt; innerlich fühle ich mich im Feld und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern“, schrieb sie an Sophie Liebknecht.
Unsentimental und voller Respekt ist ihr Entzücken angesichts der Tatsache, dass Raub- und Singvögel einträchtig gen Süden fliegen; Feindschaft ist ausgesetzt angesichts des gemeinsamen Ziels. Und sollte man dies noch entfernt politisch deuten können, versagt solche Interpretation angesichts ihrer Betrachtungen samtener Nächte komplett: „Da liege ich still allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis … und dabei klopft mein Herz von einer unbegreiflichen, unbekannten inneren Freude. Und ich lächle im Dunkel dem Leben, wie wenn ich irgendein zauberhaftes Geheimnis wüsste.“
Warum sie so empfindet, weiß sie selber nicht; es muss auch nicht ergründet werden. Noch weniger hilfreich wäre es, Luxemburgs Naturliebe als temporären Ruhepol einer erschöpften Agitatorin zu betrachten – dies ist die Natur für sie ausdrücklich nicht: „Mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den Genossen. Und nicht etwa, weil ich in der Natur, wie so viele innerlich bankerotte Politiker, ein Refugium finde. Im Gegenteil, ich finde auch in der Natur so viel Grausames, dass ich sehr leide.“
Und trotzdem – auch in ihren gehetzten letzten Lebensmonaten, in denen sie angesichts der Pogromstimmung fast täglich die Wohnung wechselte, auch kurz vor ihrer Ermordung also, wäre sie vermutlich bei ihrem 1917 geäußerten Satz geblieben: „Ich möchte nichts aus meinem Leben missen und nichts anders haben, als es war und ist.“
Lesung mit Peggy Parnass und Lena Stolze: morgen, 17 Uhr, Wehbers Park, „Arme Leute Garten“, Ecke Emilienstraße/Fruchtallee, neben der Kita Herrenhaus. Bei Regen findet die Veranstaltung im 1. Stock der Kita statt