: Lied vom gescheiterten Chor
■ Christoph Marthaler versucht sich mit Canettis Hochzeit das erste Mal am regulären Erzähltheater / Morgen abend ist Premiere im Schauspielhaus
Eventuell wird es morgen abend bei der Premiere von Christoph Marthalers Canetti-Bearbeitung Hochzeit eine Überraschung geben. Denn der Schweizer Theater-Alchimist, der bislang entweder allbekannte Klassiker in faszinierender Slow-Motion analysierte oder eigene Projekte ohne Stückvorlage „gebar“, wendet sich hier erstmals dem regulären Erzähltheater zu. „Man wird sich dran gewöhnen müssen“, so der schüchtern-freundliche Regiestar mit den flinken Augen, „daß ich jetzt auch Stücke mache.“ In diesem, Canettis Drama von 1932, geht es um eine von materieller und erotischer Gier in die plappernde Kommunikationslosigkeit getriebene Hochzeits-gesellschaft, die schließlich unter dem zusammenstürzenden Haus des Geschehens begraben wird.
Warum gerade dieses Stück, dessen Aufführung Canetti eigentlich nicht mehr wünschte, weil der Kollaps des Gebäudes zu platte politische Parallelen hätte provozieren können? Und warum mit einem Stück das neue Regieleben beginnen, das viel zu viele Charaktere und Einzelsituationen hat, um menschliche und dramaturgische Qualitäten zu erreichen? Die „Bedrohung, daß etwas zusammenstürzen könnte“, und die Darstellung eines „gescheiterten Chores“ hätten ihn fasziniert, erklärt Marthaler, dessen Wurzel-Faust am Schauspielhaus noch immer mit großem Erfolg läuft. „Es ist vielleicht ein schlechtes Stück, aber es ist ein Stück, mit dem man unheimlich viel machen kann. Es ist sehr plakativ, kabarettistisch, besitzt viele triviale Stilmittel, die an heutige schlechte Fernsehserien erinnern, aber es ist wahnsinnig präzise geschrieben. Dennoch ist es klar, daß etwas damit passieren muß.“
Marthaler, der Künstler der atmosphärischen Feinstofflichkeit, versetzt die Geschichte also erst einmal als monotone Endlos-Feier in eine undefinierte Nachkriegszeit, so daß dem drohenden Zusammenbruch bereits einer vorausgegangen ist. Aus dieser Spannung entwickelt er sein Szenario, bei dem die Akteure mal wieder in einem Raum von Anne Viebrock gefangen sind. Auch der Einsturz findet nur in der Gesellschaft statt, denn „nach all den Kriegen und Erdbeben ist es ziemlich läppisch, auf der Bühne ein paar Wände einzureißen“. Und bestimmt wird das vierfache Marthaler-Tempo des stakkato-situativen Stückes den Dehner von Zeiten zu Änderungen zwingen, denn er schätzt es selbst realistisch ein: „Ich wollte auch schon früher ganz andere Sachen machen, aber dann kam es immer wieder zu diesem Tempo.“
Und deswegen kann es dann doch sein, daß am Ende wieder das Marthaler-typische liturgische Kanalsystem auf der Bühne entsteht, bei dem die Musik und die darstellende Kunst permanent und gemächlich das Unterbewußte an die Innenstirn spülen.
Till Briegleb
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