Liebling der Kunstszene New Yorks: Kleine Mädchen auf der Weide
Paul Chan spielt mit den Mythen des Abendlands wie mit Produkten der Unterhaltungsindustrie. Seine Werke sind im Schaulager Basel zu sehen.
Gäbe es im Kunstbereich das Thrillergenre, so gehörte der Kosmos von Paul Chan dazu. Diesen Eindruck gewinnt, wer die aktuelle Ausstellung des Amerikaners im Schaulager Basel durchstreift. Doch entpuppen sich die Horrorgeschichten als Fantasy für ein intellektuelles Kunstpublikum.
Der Anschlag vom 11. September 2001 auf die Türme des World-Trade-Centers hat die New Yorker Kulturszene aufgeschreckt. Chan beantwortet das Desaster damit, den Imperialismus der Bush-Regierung ins Visier zu nehmen und die Frage zu stellen: „Wie sollen wir leben?“
Aufsehen erregte der Künstler erstmals, als er 2002 mit einer Antikriegsorganisation in den Irak reiste, um gegen die kurz bevorstehende Invasion der USA zu protestieren. Sonst weiß man wenig über den 1973 in Hongkong geborenen, aber in Nebraska aufgewachsenen Amerikaner. In einem Interview erwähnte Chan ein Studium, experimenteller Film und Video, eine seiner Reden hielt er als Absolvent der School of the Art Institute Chicago.
Lieber noch als ein politischer Aktivist tritt er als Intellektueller auf. Seine Werke basieren auf ungezählten Anspielungen aus Philosophie und Literatur. Die Mythen des Abendlands dienen ihm wie die Produkte der Unterhaltungsindustrie als Zitatenschatz. Von der Bibel über die Odyssee bis zu Super Mario, alles wird genutzt und umgewertet, um zu zeigen, dass nichts mehr unkommentiert Bestand hat.
Tote Kreisläufe, die nichts mehr zeigen
Diese Totalkritik ist schwer auszuhalten. In seinen neuesten Objektinstallationen, den „Non-Projections“, verbindet Chan Beamer mit Stromkabeln und Steckdosen. Es wird aber gar nichts projiziert, und woher der Strom kommt, ist auch fraglich. Tote Kreisläufe, die nichts mehr zeigen.
Ja, wir stecken fest in der westlich tradierten Sicht der Dinge. Unsere Gedanken sind nichts anderes als die Projektionen auf jener Höhlenwand, von der Platon Sokrates sprechen ließ, und gemeinerweise hat einer auf der Erde, im Reich der geistigen Erleuchtung, nun auch noch das Licht ausgeknipst. „Play Doh“ (Platon) heißt eines dieser Werke, ein anderes „Sock N Tease“ (Sokrates).
Die Idee, Netzwerke oder Gesellschaften anhand von Kabeln und Steckdosen darzustellen, geht auf die Werkgruppe der „Arguments“ zurück. Gebrauchte Schuhe von Frauen, Männern und Kindern stehen für Individuen, die durch Kabel miteinander verbunden sind. Eine ungeheure Ödnis geht von diesem Kabelsalat aus. Im Zweifel ist dies so gewollt.
Ein Wolf, der den Mond anheult
Chan provoziert gern. Der Künstler, der sich vor einigen Jahren noch mit Brille im Kord-Jackett präsentierte, absolvierte im Schaulager Basel das Künstlergespräch mit Hipster-Frisur in einem ärmellosen T-Shirt, das er an diesem Tag sicher nicht zufällig aus dem Koffer gezogen hat: Das Motiv auf der Brust zeigte Wölfe, die den Mond anheulen.
Dunkel ist es auf dem Planeten, die Aufklärung, das Licht, hat ausgedient. Fette Bürger geben sich dem Hedonismus, der geistlosen Lustbefriedigung hin, symbolisiert durch ein pornografisches Scherenschnitttheater. „Sade for Sade’s Sake“ heißt die Videoanimation, die 2009 auf der Biennale von Venedig zu sehen war.
Schon in seiner Arbeit „Happiness“, die er vor seiner Irakreise begonnen hatte, diente Sex Chan als Bild für eine Vorstellung allgemeiner Glückseligkeit. Die hatte Ende des 18. Jahrhunderts der Franzose Charles Fourier vertreten. Chan schloss dessen libertinäre Sozialutopie mit den bildnerischen Visionen des „Outsider-Artists“ Henry Drager kurz. Kleine Mädchen, mal mit weiblichen, mal männlich Geschlechtsteilen ausgestattet, weiden in seiner Animation im frühen Computerspiellook wie Kühe auf Wiesen, kopulieren und defäkieren und werden am Ende von Soldaten und Anzugträgern erbarmungslos niedergemetzelt.
Der Künstler als Autor
Sympathisch wird Chan erst, wenn man seine Texte liest. Eine Auswahl hat das Schaulager aus Anlass der Ausstellung publiziert. Darin spricht der Künstler von eigenen Erlebnissen, die er zwar wie gewohnt mit seinen Lektüren verschränkt, doch bleibt er bei einem authentischen Ton, der den Leser – trotz ausufernder Analysen zur wirtschaftlichen Lage der USA – bei der Stange hält.
Chan scheint nicht unterscheiden zu wollen zwischen dem Autor und dem Künstler. Für ihn ist alles eins: Zeichnungen benutzt er als Fußnoten, Texte werden zu Kunst.
Zu seinen besten Werken gehören die „fonts“, das sind konzeptuelle Arbeiten, Schriften, die er aus der Umcodierung des Alphabets gewinnt. In „Oh Monica“ steht „yes“ für das a, „like this“ für das b, keine Frage, es geht um Monica Lewinsky, die von Präsident Clinton missbrauchte Praktikantin. In „Politics to come“ ist jeder Buchstabe mit „blah“ gleichgesetzt, spätestens jetzt wird klar: Politik ist – wie Wirtschaft, Dichtung, Naturwissenschaft – nur ein weiterer Bereich, den Chan in seinem nahezu grenzenlosen Werk verarbeitet.
Ohne Sprache, aber auch ohne Buch kann Chan nicht sein. Seine Hassliebe zu den Kompendien des Wissens drückt sich plakativ in dem monumentalen Werk „Volumes“ aus. Über zwei riesige Wände zieht sich die Installation von 1.005 Bucheinbänden, die er auf Holzplatten geklebt und mit Malereien in Grautönen beklebt hat.
Den Inhalt weggeworfen
Die Seiten, den Inhalt, hat er weggeworfen. Die oftmals noch lesbaren Titel auf den Buchrücken ergeben eine schrille Collage unserer Kultur: „A Boy named Giotto“ hängt neben „History of Russia“ und „Organisation Development in Schools“.
Das Buch ist Chans eigentliche Bühne. Mit Freunden gründete er 2010 den E-Book-Verlag badlands, in dem er – neben vielen eigenen Bänden – Texte von Saddam Hussein über Demokratie veröffentlichte, Gedichte der Tanzkünstlerin Yvonne Rainer oder die Duchamp-Interviews von Calvin Tomkins. Der Verlag publiziert im „expanded field“, also in einem erweiterten Kontext.
Paul Chan: Selected Works. Bis 19. Oktober, Schaulager, Basel. Der Katalog kostet 27 Schweizer Franken.
Schaut man sich das Programm genauer an, wirkt die XXL-Ausstellung in Basel mit ihren provozierenden Animationen wie Episoden in Paul Chans Gutenberg-Galaxis. Aber sie hat klargemacht, dass hinter der Universalbegabung ein Autor steckt, und zwar ein ziemlich guter.
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