: Liebeshändel im Schneiderzimmer
Die immer wunderlicher werdende Geschichte, die dem Oberstleutnant Reuss widerfuhr
Vor einigen Wochen berichtete die Wahrheit aus den Kreisen der Gesellschaft (Die Wahrheit vom 29. September und 17. November 2006). Und wieder ist es der Redaktion gelungen, mehr in Erfahrung zu bringen über den umtriebigen Oberstleutnant Reuss und darüber, wie sich die äußerst wunderliche Geschichte seiner Liebeshändeleien jetzo fortsetzt.
„Bitte, so fahren Sie doch fort“, forderte der Intendanzrat Dr. Demetrius Weber den Generaldirektor Gretz auf. „Mich – und ich glaube auch im Namen des verehrten Herrn Notarius C. F. von Schiepenbeck sprechen zu dürfen –, uns also drängt es, zu erfahren, welch eine wunderliche Geschichte dem Oberstleutnant Reuss am vergangenen Dienstag denn nun widerfahren ist.“
Die heitere Gesellschaft hatte soeben ein vorzügliches Abendmahl verköstigt, mit Gänsestopfleber, gebratenen Flusskrebsen, Roastbeef, Rotkraut und Petersilienkartoffeln, dazu köstliche Champagnercremesauce und kostbaren Rotwein aus einer Palette mit mehreren Flaschen eines ausgesuchten, kleinen Weingutes im österreichischen Kremstal, die der Notarius C. F. von Schiepenbeck als Anerkennung für eine kleine Gefälligkeit, mit der er unlängst dem Stadtratsvorsitzenden Professor Rudolf Klaasen aus einer etwas unvorteilhaften Situation zu helfen in der Lage war, erhalten hatte.
Die Damen der Gesellschaft hatten sich im weiteren Verlaufe des durchaus anregenden Abends erschöpft von den vielen Erlebnissen des vorhergegangenen Tages zurückgezogen, denn wer schön sein will, muss ausreichend Schlaf genießen, und ihre Schönheit war keines der Attribute, die die Damen freiwillig aufs Spiel zu setzen gedachten.
Die Herren Notarius C. F. von Schiepenbeck, Intendanzrat Dr. Demetrius Weber und Generaldirektor Gretz hatten sich wieder im Rauchzimmer zusammengefunden, um den Abend bei einem süffigen Weinbrand und guten Zigarren am wohlig knisternden Kaminfeuer langsam ausklingen zu lassen und dabei Dinge zu besprechen, die für keusche Damenohren nicht bestimmt waren.
„Wie ich Ihnen, meine lieben Freunde, ja bereits berichtete“, so sprach also der Generaldirektor, „hatte der Oberstleutnant Reuss den Soldaten Franz Lindow also zum Manöver nach M* geschickt und sich angeschickt, der schönen Frau Gemahlin des braven Soldaten einen Besuch abzustatten, den er durchaus mit einem charmanten Liebeshandel zu verbinden gedachte. Nun hatte es sich also ergeben, dass der Notstand des jungen Pfarrers Rommerskirchen, aus dem nur der Oberstleutnant diesem wieder herauszuhelfen in der Lage war, dazu führte, dass es demselben, also dem Oberstleutnant, unmöglich gelingen konnte, zum Besuch bei der angehimmelten Frau Lindow rechtzeitig aufzubrechen, was wiederum dazu führte, dass sich besagte Dame, die nicht unbedingt für ihr unkompliziertes Wesen bekannt ist, dass jene Dame also, als der Zeitpunkt der Verabredung um gerade drei Minuten verstrichen war, ihr kleines, aber akkurates Haus verließ, da sie es für würdelos hielt, auf den Oberstleutnant auch nur noch eine einzige Sekunde länger zu warten.
Sie begab sich stattdessen zu ihrer Busenfreundin, der ledigen Schneiderin Frl. Magdalena Hellmund – oder, um es besser auszudrücken, sie wollte sich zum Frl. Hellmund begeben, doch als sie das Mietshaus erreichte, in dem die kleine, recht rundlich gebaute Schneiderin ein bescheidenes Zimmer bewohnt und das in einer schlecht beleumundeten Gegend der Stadt liegt, fand sie dortselbst zu ihrer Verblüffung die Zimmertüre nicht verschlossen, sondern – offensichtlich aus Versehen – nur leicht angelehnt. Nun wäre es von wohlerzogener Art gewesen, durch lautes Räuspern und höfliches Klopfen an der Türe auf sich aufmerksam zu machen, doch durch den Spalt drangen Geräusche, die in Frau Finows Ohren wahrlich interessant klangen, auch glaubte die ungezogene Lauscherin neben der Stimme der Schneiderin auch die des Bürgermeisters Nikolaus Hunsteger zu erkennen, der ein Oheim von Bettine Hunsteger, der Cousine ihres, also der Frau Finow, Gatten ist.
Immer auf den praktischen Nutzen bedacht, überlegte die unartige Türhorcherin noch, welchen Vorteil sie aus dem Wissen um die pikante Tändelei im Schneiderzimmer zu ziehen vermöge, als sie nach Beruhigung der Lage aus ebendemselben einen unter anzüglichem Kichern geführten Dialog aufschnappte, dem zu entnehmen war, dass ihr Gatte, der brave Soldat Finow, womöglich zur gleichen Zeit dem hübschen Cousinchen Bettine in M* näher zu kommen gedachte, als es die Regeln der Schicklichkeit erlaubten.
Mit wutverzerrtem Mäulchen stürmte die junge Finow aus dem Hause, wild entschlossen, bittere Rache an ihrem ungetreuen Gemahl zu nehmen, und lief auf der Straße geradewegs in die Arme des stadtbekannten Bohemiens Arthur Schickel – ein stets auffällig gekleideter Schwerenöter von 35 Jahren, der von sich behauptete, ein Künstler zu sein, der nur noch auf die große Inspiration warte, und der sein Leben hauptsächlich in den dunkelsten Spelunken der Stadt fristete, aber stets guter Dinge und vergnügt und auch durchaus dem schwachen Geschlecht zugeneigt war. Und diesen gedachte die aufgebrachte Finow in ihre noch zu schmiedenden Rachepläne einzubeziehen.“
Mittlerweile war es spät geworden, und der Weinbrand hatte die Herren in eine angenehme Schläfrigkeit versetzt, so beschloss man, die Runde vorerst aufzulösen. Der Generaldirektor Gretz zwinkerte den Herren Notarius C. F. von Schiepenbeck und dem Intendanzrat Dr. Demetrius Weber verschworen zu. Er würde die wunderliche Geschichte, die dem Oberstleutnant Reuss am vergangenen Dienstag widerfahren war, demnächst weitererzählen … CORINNA STEGEMANN