„Liebe taz...“ Die Bremer Ärztekammer kann die Vergabe von Brechmitteln mit ihrem Gewissen vereinbaren – die Ärztekammer in Hessen nicht
Zum Beschluß der Ärtzekammer, daß die Vergabe von Brechmitteln nicht gegen den Berufsethos verstößt, richtet das Anti-Rassismusbüro einen offenen Brief an die Kammer. In den nächsten Tagen wird die Ärztekammer an dieser Stelle zu dem Brief des Antirassismus-Büros Stellung nehmen.
Wir haben mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, daß die Bremer Ärztekammer ihren Beschluß vom Oktober letzten Jahres, wonach die Vergabe von Brechmitteln zum Zweck der polizeilichen Beweissicherung gegen das ärztliche Berufsethos verstößt, revidiert hat. Offenkundig ließen sich die Delegierten am Montag, den 26. August, derart von den Ausführungen des Bremer Rechtsmediziners Dr. Birkholz beeindrucken, daß sie den alten Beschluß kippten.
Birkholz und seine Mitarbeiter verabreichen die Brechmittel seit Januar 1995 gegen Honorar im Auftrag der Bremer Polizei. Dem Präsidium der Ärtztekammer ist vorzuwerfen, daß es nicht einmal ansatzweise versucht hat, sich in dieser Frage ein unabhängiges Bild zu machen.
Das Präsidium der Bremer Ärzttekammer hätte ohne weiteres in Erfahrung bringen können, daß seit Dezember 1995 bislang vier Strafanzeigen gegen die Ärzte des Rechtsmedizinischen Instituts gestellt worden sind. Darunter ist der Fall eines Jugendlichen, der seinen Angaben zufolge bei einer Exkorporation im Dezember 1995 unter heftigen Schmerzen zusammenbrach. Als er von der Polizei schließlich entlassen wurde, erhielt er einen von der Birkholz-Truppe ausgearbeiteten und an Zynismus kaum zu überbietenden Zettel ausgehändigt, auf dem in deutscher Sprache (der Betroffene kann nicht deutsch lesen) steht:
„Bei starkem Erbrechen, starkem Durchfall bzw. Bluterbrechen bitte den Hausarzt aufsuchen. Zwischen 19.00 Uhr und 7.00 Uhr unter Tel.: 0421-19292 Hilfe anfordern.“
Die Ärztekammmer hätte sich jederzeit informieren können, daß die von Dr. Birkholz angegebene Nachbeobachtungszeit von 90 Minuten sich nicht auf eine ärztliche, sondern polizeiliche Aufsicht bezieht - in der klinischen Brechmittelbehandlung bei Vergiftungen sind dagegen Stunden unter medizinischer Aufsicht Standard.
Darüber hinaus müßte dem Präsidium der Ärztekammer bekannt sein, daß selbst diese Beobachtungszeiten nicht eingehalten werden. Im Fall eines 16jährigen Jugendlichen, dem am 18. April 1996 nach seinen Angaben unter anderem mit Gewalt eine Nasensonde eingeführt wurde, steht aufgrund der polizeilichen Unterlagen zweifelsfrei fest, daß er bereits wenige Minuten nachdem er einen Eimer vollgekotzt hatte (ohne Drogen zu erbrechen) „entlassen“ wurde. Er brach daraufhin noch am Gelände der Bereitsschaftspolizei ohnmächtig zusammen.
Danach wurde er nicht etwa von dem Birkholz-Mitarbeiter versorgt, sondern die Polizei rief extra einen Rettungswagen. Der Betroffene hat angegeben, daß er unter den Augen des Arztes den vollen Eimer ausleeren und danach den Boden wischen mußte. Im Polizeibericht heißt es dazu, ihm wurde Gelegenheit gegeben, „seine Umgebung zu säubern“.
Der Jugendliche beschuldigt den Arzt außerdem, ihn solange ins Gesicht geschlagen zu haben, bis er das Brechmittel trank.
Dem Präsidium der Ärztekammer hätte darüber hinaus bekannt sein müssen, wie es in der Realität um die angeblich stets durchgeführte Voruntersuchung und Anamnese (zur Aufklärung etwaiger Vorerkrankungen) bestellt ist.
Dr. Birkholz hat hinter den Kulissen offen zugegeben, daß, falls die Betroffenen bei Voruntersuchungen und Anamnese nicht mitwirken (was zu verweigern ihr gutes Recht ist), das Risiko innerer Blutungen eben in Kauf genommen werde: „Kardiale oder reflexbedingte Kontraindikationen sind durch uns auch weitgehend ohne Mitwirkung des Patienten festzustellen; das Risiko des Vorhandenseins eines Magengeschwürs und das Bluten aus diesem müssen wir in Kauf nehmen.“ (Tischvorlage des Senators für Justiz und Verfassung vom 30. August 1995).
Bekanntlich haben mittlerweile die Ärztekammern in Hessen und Hamburg die polizeiliche Brechmittelabgabe für unvereinbar mit dem ärztlichen Ethos erklärt. Die Hessische Generalstaatsanwaltschaft, die in Frankfurt/Main Brechmittel verabreichen läßt, hat in einem Schreiben vom 18. März 1996 konsterniert auf diesen Beschluß reagiert.
Die Hessische Landesärztekammer ist daraufhin allerdings nicht in die Knie gegangen. Im Gegenteil, der Mühlheimer Internist Dr. S. Drexler, selbst Mitglied im Präsidium der Hessischen Ärztekammer, hat den Beschluß in einem Brief vom 29. April 1996 an den Präsidenten der Landesärztekammer noch einmal bekräftigt.
Dr. Drexler hat darin die auch in Bremen praktizierte Maßnahme, den Betroffenen das Brechmittel bei verweigerter „freiwilliger“ Einnahme zwangsweise per Nasensonde zu verabreichen, als gefährlich kritisiert: „Nach jahrelander Erfahrung im Notfall- und akutmedizinischen Bereich besteht das Problem der Verletzung in erheblicher Weise. Die Durchführung der Sondierung ist auch bei gesunden Personen in hohem Maße verletzungsträchtig, die ausreichende medizinische Untersuchung, Betreuung und Nachsorge kann die Verletzung im Nasen-Rachenraum, am Kehlkopf, bzw. an der Speiseröhre oder Luftröhre (bei recht häufiger Fehlsondierung) nicht vermeiden.“
In einer Stellungnahme für die Hamburger Staatsanwaltschaft hat der renommierte Hamburger Intensivmediziner Dr. Klöss die Zwangseinführung der Nasensonde bereits im Juni 1994 sogar kategorisch abgelehnt.Die polizeiliche Vergabe von Brechmitteln wird von amnesty international und vielen ihrer KollegInnen als Menschenrechtsverletzung unter ärztlicher Mitwirkung gewertet.
So hat der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte mittlerweile auch den neuen Menschenrechtsbeauftragten der Bundesärztekammer, Dr. F.U. Montgomery, eingeschaltet. Die Tatsache, daß dies bei der Bremer Ärztekammer offenkundig auf keinerlei Interesse und Resonanz stößt, ist verwunderlich und bitter. Schließlich verlangen viele ihrer KollegInnen, daß die Ärzteschaft, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrung mit der Medizin im NS, den hier und heute von Ärztinnen und Ärzten begangenen Menschenrechtsverletzungen mit höchster Sensibilität begegnet.
Tragischerweise wird diese Forderung von der Bremer Ärztekammer offenbar nicht richtig ernstgenommen. Die Bremer Ärztekammer, und somit auch Sie, Frau Dr. Auerswald, tragen damit einen guten Teil der Verantwortung dafür, was Dr. Birkholz und seine Mitarbeiter hier in Bremen veranstalten.
Anti-Rassismusbüro, Bremen