Lidokino: Ghost-Sprecher am Rande
■ Film und echtes Leben – Propagandatag auf ganzer Linie
Abends kommt es mitunter dazu, daß dunkle Mächte einen graden, klaren Menschen hinabziehen in Trattorien, wo „Gnocchi“ oder „Verdure“ warten. Man wundert sich dann jedes Jahr wieder, warum man die Filmfestspiele als verwirrter, dickmopsiger Pauper verläßt.
Nun, so kam es auch gestern abend wieder, und bei der Gelegenheit sahen meine Leidensgefährten und ich in einer Ecke bei kleiner Gartenfunzel wen hocken, den Branchenkenner schnell als Enno Patalas erkannten, den langjährigen Leiter der Münchener Kinemathek und Autor einer unbestrittene Autorität verbreitenden Filmgeschichte. Es stellte sich heraus, daß Romuald Karmakar den Mann eingeflogen hatte, um sich von ihm bei der Vorstellung seines „Totmachers“ hier unterstützen zu lassen – eine von vornherein etwas seltsame Konstruktion, aber nun gut. Der Meister tat, wie ihm vermeintlich geheißen, und meldete sich in der erschreckend öden Pressekonferenz zu Wort: „Damit hier nichts Falsches berichtet wird und damit die Kollegen Journalisten diese wichtige Information nicht unterschlagen, möchte ich sagen, daß der Romuald jemand ist, der sein Handwerk nicht auf einer Filmhochschule gelernt hat, sondern beim Filmegucken, da hat er „M – eine Stadt sucht einen Mörder“, Murnaus „Der letzte Mann“ und so weiter gesehen, die nun alle in sein Haarmann- Porträt eingeflossen sind. Und wo hat er all diese Filme gesehen? In der Münchener Kinemathek, deren Leiter ich lange Jahre war. Dort zeigten wir...“ Und so weiter, bis er seinen Schützling glücklich als einen Dummkopf verkauft hatte, in dem nichts drinnen ist, was nicht er, Patalas, vorher höchstselbst hineingetan hatte, und selbst dann kann er es noch nicht mal selbst vorbringen, sondern braucht einen Ghost-Sprecher. Gespenstisch.
Filmisch war ansonsten gestern Propagandatag, wie mein Ostkollege Knut Elstermann, Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg, der sich mit diesen Dingen auskennt, sofort angewidert erkannte. Nigel Finchs „Stonewall“ erzählt die – zugegebenermaßen noch viel zuwenig erzählte – Geschichte des New Yorker Drag-Queen-Aufstands von 1969, und zwar mit ziemlich klasse Musikeinlagen, bei denen Petula-Clark-Imitationen zum Zuge kommen. Young, gay and full of dreams kommt ein Südstaatler namens Matty Dean (den Namen hat er sich selbst aufgepatzt) nach Downtown, wo er auf La Miranda („I dont do tears“) trifft, die dann aber irgendwann doch seinetwegen Tränen vergießt. Die Polizisten, von denen einige besonders slicke Burschen selbst Queens zu Freundinnen haben, kommen allabendlich vorbei, tauchen edel drapierte Köpfe ins Spülwasser, treten, prügeln und inkarzerieren, bis – Judy Garland stirbt. Deren Tod im Alter von 47 Jahren soll der Auslöser gewesen sein für die fabulöse Prügelei in Pumps und Perücke. Leider haftet der Sendung eine BBC- gemäße Lehrfibelhaftigkeit an, und so müssen alle Optionen, die Matt hat, einmal durchgespielt werden, bis er schließlich wieder bei der richtigen landet, bei La Miranda eben.
Inzwischen bin ich felsenfest davon überzeugt, daß die sogenannte „Gewalt im Kino“ nur dann erschreckt, wenn sie nicht mehr narrativ vertäut ist, wenn ein Surplus von Gewalt entsteht, das über die Ökonomie der Handlung hinwegschießt (die Verhörszene aus „Reservoir Dogs“). Hier nun aber, in dem Nordirlandfilm „Nothing Personal“, ist alles zunächst gedeckt, weil politisch. Beide Seiten werfen Brandsätze, auch auf Menschen, beide stechen, prügeln, erpressen, aber auf der einen, der protestantischen Seite gibt es einen, ein Monster, dem es Spaß macht. Endlose Folterszenen sollen einem – was sagen? Nichts! Mit denen ist nicht mehr zu verhandeln, also? Mariam Niroumand
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