Lidokino: Hitlers willige Kinderträger
■ Volker Schlöndorff stellt seinen umstrittenen Film „Der Unhold“ in Venedig vor
Warum Volker Schlöndorff gerade Michel Tourniers Roman „Der Erlkönig“ zur Vorlage für einen Film über ein Thema gemacht hat, das bei Susan Sontag „Fascinating Fascism“ hieß, liegt sofort auf der Hand. Der Held Abel Tiffauges führt Kinder aller Provenienz auf seinen Schultern ihrer Bestimmung zu, und Schlöndorff läßt sich von ihm, von einem „Unschuldigen“, von Ideologie nicht Belasteten, durch die Kriegswirren an die Napola nach Kaltenborn tragen, eine Eliteschule für SS-Nachwuchs, die schließlich immer kläglicher für den Volkssturm mobilisierte.
Tiffauges, ein französisches Findelkind, ist genau die Art von Freak, die den „Neuen Deutschen Film“ bevölkerte: einer von den Zwergen, den Händlern der vier Jahreszeiten, den sprachlosen Woyzecks, die klein angefangen haben und es nach Möglichkeit auch irgendwie geblieben sind.
„Was machen Sie mit den Kindern“, fragt ihn ein französischer Offizier, als er noch Automechaniker in Paris ist und in Verdacht gerät, ein kleines Mädchen sexuell mißbraucht zu haben (das Thema bleibt uns erhalten): „Ich schütze sie vor den Erwachsenen.“
Beim Lesen des krausen Mythengemischs (Erlkönig, St. Christophorus, heidnische Feuersagen) ahnte man schon, welches Schlöndorffs „Stellen“ sein würden: wie Abel einmal die schmutzig-blutende Wunde eines stärkeren Jungen auf seinem ersten Zuchtinternat ausleckt, wie sie die Kirche des St. Christophorus (!) dann anzünden, wie die schöne, sexuell unersättliche Jüdin Rachel (!) bei Abel in der Werkstatt auftaucht, wie das kleine Mädchen denunzierend auf ihn zeigt oder wie Göring es liebt, seiner Jagdbeute die Hoden abzuschneiden.
Die Vorlage enthält daneben aber auch unspektakuläre, vergrübelte Stellen, deren Betonung dem Film vielleicht zu einer interessanten Verschrobenheit verholfen hätte. Aber Schlöndorff hat unterwegs kalte Füße bekommen und baut so immer mehr apologetische Momente ein: Sein Göring, weit davon entfernt, faszinierend zu sein, ist der altbekannte Typ des in Pelz gehüllten, in Juwelen wühlenden, dann wieder grölenden, jähzornigen, sadistischen Latenzschwulen. Gespielt wird er von Volker Spengler, Fassbinders erster Filmschwuchtel, wie überhaupt der Fassbinder von „Lili Marleen“ ebenso stilistisch beliehen wird wie Visconti/Wertmüller/Caviani, die 70-Jahre-Version von der Nazizeit als halb grandioser, halb lächerlicher Dekadenz. Armin Mueller-Stahl erklärt dann andererseits als Graf von Kaltenborn, der später als Widerständler abgeführt wird: „Es ist die Musik. Du bist einfach wie besoffen von diesen Liedern.“ (Es erklingt dann zum Beispiel „Kein schöner Land“.)
Alles wird erklärt. Der Kaltenborn-Arzt, der sich als „Professor Blättchen“ vorstellt, ruft irgendwann in diesem gespreizten Englisch, in dem der Film gedreht ist, aus: „Brightness is not a characteristic of the German race. Our sources are in darkness: Wagner, Nietzsche, Bruckner!“
Neben der Jüdin Rachel (sexuell lasziv) gibt es als Frauenfigur nur noch Marianne Sägebrecht (nicht so lasziv), die im Schlafsaal wacht und Abel gegen Kriegsende zuflüstert: „Ich habe sie gesehen, die Toten, nachts im Mondlicht ziehen sie durch unser Land. Es waren überall Lager.“ Und tatsächlich findet Abel im Schnee ein verfrorenes, niedliches jüdisches Kind, das er ebenso auf seinen Schultern trägt wie vorher die andern Jungens. Sound und Pulverdampf sind definitiv Babelsberg. Wie sich so ein Film wohl für Engländer ausnimmt? Oder für Franzosen?
Für Gillo Pontecorvo, der die Mostra seit fünf Jahren leitet, sind, wenn ich den Corriere della Sera richtig verstanden habe, schon Nachfolger im Gespräch, unter anderem Nanni Moretti und Marco Müller, der jetztige Festivalleiter von Locarno. Offenbar wird also Pontecorvos Einschätzung, man solle nicht auf Jungtalente hoffen, sondern auf bewährte Autoren setzen, denn nur sie hätten noch die Kraft zur Innovation, nicht allenthalben geteilt. Wenn Ken Loach, Manuel de Oliveira, Jean-Luc Godard oder Claude Lelouche nicht deutlich waghalsigere Wettbewerbsbeiträge präsentieren als Volker Schlöndorff, wird sich die Strategie kaum halten lassen. Mariam Niroumand
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