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Liberation ohne Chefredakteur

■ Nach der Veröffentlichung von Leserbriefen zur Judenvernichtung zog Libe–Cchef July die Zeitung vor dem Verkauf wieder ein / Sein Chefredakteur nahm als Verantwortlicher den Hut

Aus Paris Georg Blume

Serge July, Herausgeber und unbestrittener Chef der links–liberalen französischen Tageszeitung Liberation, gilt als ein eher phlegmatischer Vorgesetzter. Am Donnerstag aber traf er sehr schnell eine im Zeitungswesen ungewöhnliche Entscheidung: Er zog ohne Zögern die Ausgabe vom 28. Mai der Liberation vom Verkauf zurück. Der Grund: ein in dieser Ausgabe abgedruckter Leserbrief, der die Vergasung von vier Millionen Juden in Auschwitz auf groteske Weise verharmlost. Am Donnerstag abend trat daraufhin der verantwortliche Chefredakteur von Liberation, Dominique Pouchin zurück, nachdem der zuständige Leserbrief–Redakteur bereits von July entlassen wurde. In der Tat handelte es sich um einen Leserbrief, der den gewöhnlichen Liberation–Leser erstaunen mußte. „Barbie–Boom“ war der Brief redaktionell betitelt worden. Er beschäftigte sich mit Zahlenspielen über die Opfer von Auschwitz. Der Autor rechnete zum Beispiel vor, wieviel Kilogramm die täglich in Auschwitz ermordeten Juden gewogen hätten, um sich anschließend zu fragen: „Hat man schon an die Zahl der Sklaven gedacht, die nötig waren, um die Gaskammern zu leeren, sie zu reinigen und die Leichen in die Krematorien zu bringen?“ „Dieser verheerende Vorfall ist für Liberation die Gelegenheit , erneut zu bekräftigen, daß sich dieses Presseunternehmen einer Reihe ethischer Regeln verpflichtet fühlt,“ erklärte July sein Vorgehen in der Freitagausgabe seiner Zeitung. Er beklagte, daß Liberation den „Revisionisten“ zur Sprache verholfen habe, deren historischer Parasitismus nicht das Recht hätte, als eigenständige Meinung zitiert zu werden. „Diese hysterische Negation der historischen Tatsache der Vernichtung der Juden durch die Nazis wird von einer Internationalen selbsternannter Historiker geführt, die mit Schmugglermethoden handeln“, so der Libe–Chef. In der Redaktion wurde auch Kritik an July laut, und man scherzte, ob er mit der Verkaufszurücknahme einen Werbecoup landen wollte. „July hatte einfach Angst“, erklärte ein anderer Mitarbeiter ernsthaft. „Wer in Frankreich aus dem Herz des Konsens von vierter und fünfter Republik ausbricht, das von den Begriffen Holocaust und Resistance gefüllt ist, der läuft schnell Gefahr, in die Marginalität zu gleiten.“ Die Veröffentlichung des „Barbie–Boom“–Briefes geschah ohne Kenntnisnahme, wie sonst üblich, der Chefredaktion. Dominique Pouchin nahm dennoch seinen Hut, da er „keine minderwertigen Entschuldigungen hervorbringen wolle“.

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