Lexikon des modernen und unmodernen Fussballs: Sitzfußball, der
Die Pervertierung des schönen Fußballspiels und Horror des Sportunterrichts: Sitzfußball verwandelt den Menschen in einen Vierbeiner zurück.
D er Mann hieß Friedhelm Schulte, fuhr einen roten NSU Prinz und wurde hinter seinem Rücken Fitti genannt. Wie der Spitzname nahelegt, war er unser Sportlehrer, der in seinem eng anliegenden blauen Trainingsanzug wie ein mustergültiges Mitglied der Trimm-Trab-Bewegung aussah. Zugleich erinnerte sein Style an den Altbundestrainer Sepp Herberger, mit dem ihn auch ein eher hintergründiger Humor verband. Überhaupt kann man eine Menge freundliche Dinge über Fitti sagen, vor allem aber eins: Er hat uns nie Sitzfußball spielen lassen!
Gibt es eigentlich heute noch Sitzfußball im Sportunterricht, oder ist die ganze Sache endlich vergessen? Hat es einen Befreiungskampf gegen diese Pervertierung des schönen Fußballspiels gegeben, oder dürfen immer noch Schüler damit gequält werden? Und wie konnte sich der Sitzfußball überhaupt in die Turnhallen schummeln? Hat er jemals auf Lehrplänen gestanden, oder haben Fußballfeinde das einfach behauptet?
Bei einer kleinen, absolut nicht repräsentativen Umfrage unter Freunden nach ihren Erfahrungen mit Sitzfußball waren die Reaktionen fast immer eine Mischung aus Stöhnen, Händ-vors-Gesicht-Schlagen, Kopfschütteln und Augenrollen.
liebt Fußball und schreibt darüber.
Sitzfußball haben wir alle als schrecklich empfunden, weil er den Menschen in einen Vierbeiner zurückverwandelte, der allerdings nicht Brust und Bauch dem Boden zuwendet, sondern Rücken und Po. Der Ball wurde zwar immer noch mit dem Fuß gespielt, aber dabei mussten die Hände der Spieler auf dem Boden sein. Und so sah es in den Schulstunden aus, als würde man einer Krabbenkolonie beim Kicken zuschauen. Das war übrigens so bescheuert und komplett spaßfrei, wie es sich anhört, weil der sowieso schon schwierige Umgang mit dem Ball noch einmal durch eine Verlagerung des Körperschwerpunkts sinnlos erschwert wurde. Außerdem taten einem hinterher die Hände weh.
Kinder ohne Not auf diese Weise kicken zu lassen war eine Form von Sadismus und Sitzfußball die letzte Waffe in einem eigentlich längst erledigten Kulturkampf. Dieser wurde maßgeblich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen Turnern und Sportlern ausgetragen und geht in der Kurzversion so: Deutschnationale Turner versuchten ihre Vormachtstellung im Körpertraining, das sie als eine nicht einmal getarnte militärische Vorübung verstanden, gegenüber den neuen Sportarten aus England zu verteidigen und denunzierten vor allem den Fußball als antideutsch.
Wie die Geschichte ausgegangen ist, bedarf angesichts des beängstigenden Sieges des Fußballs über alle anderen Sportarten wohl keiner weiteren Erläuterung.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts war die Sache allerdings noch nicht ganz so klar und Sitzfußball die letzte Rache der Turner an den Fußballern. Für die Dauer einer Schulstunde konnten sie diese in ihren Turnhallen auf den Rücken und in die Knie zugleich zwingen. Denn Sitzfußball war immer Teil der Turnstunde, was man auch daran sehen konnte, dass die Tore aus zwei hochkant gestellten Elementen des Turnkastens bestanden und mit blauen Gymnastikbällen gekickt wurde, die richtig schön wehtaten, wenn sie auf die Haut trafen.
Und davon gab es eine Menge zu treffen, denn eine weitere subtile Quälerei war es, dass zur Unterscheidung der Sitzfußballteams die Nackten gegen die Angezogenen spielten. Wobei die Turnlehrer in ihrem dunklen Groll die Nackten wahrscheinlich sich am liebsten hätten ganz entkleiden lassen, statt nur das gerippte Turnhemd abzulegen. Zum Glück wurden einem nicht auch noch die Haare geschoren, wenn man im Team der Nackten landete.
So muss man den Fitti Schultes jener Zeit für jede Turnstunde dankbar sein, die ohne die Demütigung der Schüler durch Sitzfußball auskam. Selbst wenn man dafür wie ein nasser Sack am Reck hing, weil es mit dem verdammten Felgaufschwung nicht klappte. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“