Leutheusser-Schnarrenberger über Freiheit: "Die FDP ist keine Machopartei"
Ob Altersvorsorge oder Datenschutz: Der Staat soll Chancen schaffen, die der Einzelne dann aber auch nutzen muss, sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
taz: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Freiheit ist einer der wichtigsten Slogans der FDP. Können Sie uns Ihre Idee von Freiheit umreißen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Für mich gehören Freiheit und Verantwortung unmittelbar zusammen. Der Einzelne muss nach seinen Fähigkeiten freie Entscheidungen treffen können in Verantwortung für andere.
Jetzt wird's spannend: Was heißt in Verantwortung für andere?
Das Entscheidende dabei ist das Menschenbild, das alle Liberalen haben. Das ist die Befähigung jedes Einzelnen, alle Möglichkeiten zu ergreifen. Liberale sagen dann aber auch, dass es in der Verantwortung des Einzelnen liegt, diese Chancen für sich zu nutzen, um teilzuhaben.
Wer im falschen Viertel geboren ist, hat Pech gehabt?
Nein, der Staat hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Chancen da sind. Wir wollen die Freiheit des Einzelnen nicht aus ökonomischen Gründen. Wir sagen: Du kannst es, pack es an! Und nicht: Es ist schwierig, also frage andere, zum Beispiel den Staat. Das heißt aber nicht, dass die Rahmenbedingungen alle stimmen.
Wo fehlt es?
Grundsätzlich muss die Möglichkeit der Teilhabe am wirtschaftlichen Geschehen mit individuellen Möglichkeiten verbunden werden. Im Bereich der Finanzmärkte bedeutet Freiheit, dass Risiken durchaus eingegangen werden dürfen. Aber dann muss auch Verantwortung übernommen werden.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist seit 1978 in der FDP. Justizministerin war die heute 60-Jährige bereits ab 1992 unter Kanzler Helmut Kohl (CDU). 1996 trat sie zurück, weil ihre Partei für den großen Lauschangriff votiert hatte. Seit 2009 ist sie erneut im Amt.
Bislang übernehmen für die Krise die Steuerzahler insgesamt und nicht etwa die Finanzakteure die Verantwortung.
Die FDP setzt auf die richtige Regulierung der Finanzmärkte, schon zu Oppositionszeiten. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat ungedeckte Leerverkäufe verboten, übrigens lange vor anderen Staaten. Wir setzen auf das Zusammenführen von Risiko und Haftung, von Entscheidung und Verantwortung. Für den Bereich Internet und elektronische Kommunikation bedeutet das, die Selbstbestimmung des Einzelnen zu stärken, indem Medienkompetenz vermittelt wird. Also nicht, Datenerfassung per se zu verbieten, sondern Datenerfassung zuzulassen – aber nur durch Transparenz, also dass der User weiß, was mit seinen Daten geschieht.
Sie sind nunmehr seit 30 Jahren im Geschäft. Wo mussten Sie Ihre Vorstellung von Freiheit und Regulation, also von Individuum und Staat neu definieren?
Vom Grundsatz her eigentlich nirgends.
Was sich eindeutig verändert hat, ist die Idee von Kollektivität der Generation 2.0. Was bedeutet diese andere Form von technisch forciertem Individualismus für die Idee von Staat beziehungsweise für seine Aufgaben?
Staatliches Handeln hat sich grundlegend gewandelt. Gerade die Finanzkrise macht überdeutlich, dass wir uns von der Idee verabschieden müssen, Probleme nationalstaatlich umfassend und mit Wirkungskraft regeln zu können. Hier ist für eine liberale Partei ganz klar die Europäische Union die Ebene, auf der am ehesten parlamentarisch legitimiert gehandelt und agiert werden muss. Nur hier kann die notwendige Finanzaufsicht geregelt werden.
Wie gut also, dass sich die antieuropäischen Stimmen in der FDP nicht durchgesetzt haben. Aber brauchen wir gerade wegen der europäischen Perspektive nicht mehr Staat als in den 70ern? Für die notwendige Aufsicht, wie Sie sagen, aber auch um die Umverteilung von oben nach unten zu organisieren – Stichwort Steuern?
Der Staat organisiert ja nicht die Umverteilung, sondern er muss sehen, dass er seine Aufgaben erfüllen kann und Chancen schafft. Das bedeutet in Europa: Der deutsche Staat kann nicht Europa neu organisieren. Andere Staaten haben andere Gesellschaftsmodelle. Was wir tun können, ist durch einen Fiskalpakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Stabilität in der EU zu sorgen. Die Wirtschaftspolitik muss in den einzelnen Staaten gemacht werden.
Anders gefragt: Wo brauchen wir die starke Hand des Staates?
Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat beispielsweise im Bereich Alterssicherung. Aber das heißt auch hier nicht, dass der Einzelne nicht Verantwortung übernehmen muss. Der Staat macht die gesetzgeberischen Vorgaben, und der Einzelne muss seinen Teil zur Alterssicherung beitragen. Mit der Agenda 2010 haben die Sozialdemokraten mit den Grünen einen Durchbruch erzielt, der richtig und weitsichtig war.
Wenn wir uns die jüngsten Statistiken zum Thema Frauenarmut im Alter anschauen, ist von dieser Weitsicht wenig zu sehen. Dabei sind durchaus viele Frauen betroffen, die ihr Leben lang gearbeitet haben.
Deshalb ist es der Auftrag der Politik, die Rahmenbedingungen zu verändern. Es ist absolut richtig, viel stärker zu fördern, dass auch Männer Verantwortung für ihre Familien übernehmen. Ich habe schon den Eindruck, dass das die Generation der unter 30-Jährigen auch will.
Wie sehen Sie das Spannungsverhältnis von Verortung und Freiheit? Darf man als freiheitsliebender Mensch auch die Partei wechseln? Persönlich gefragt: Gehen Sie demnächst zu den Piraten?
Ich bin fest verortet in der FDP als der Partei des organisierten Liberalismus. Ich würde mich keiner anderen Partei anschließen, nur weil sie in diesem oder jenem Bereich auch ein paar Freiheitsvorstellungen entdeckt hat. Das ist aber ein innerparteilicher Blick von Menschen, die sich zu einer Partei bekennen wollen.
Wie sieht es von außen aus?
Für Bürgerinnen und Bürger verändern sich persönliche Schwerpunktsetzungen durch die Umstände. In einer Finanzkrise sind das vielleicht andere als in Zeiten des Terrors. Dadurch, dass es die festen parteipolitischen Bindungen so nicht mehr gibt, wird das politische Geschäft für alle etablierten Parteien schwieriger und entsprechend leichter für neue Bewegungen.
Damit wären wir schon wieder bei den Piraten. Die verkörpern den aktuellen Zeitgeist von Individualismus und Datenschutz besser als die FDP. Wo liegen die Versäumnisse der Liberalen?
Also: Die Piraten haben in Berlin einen Erfolg erzielt, in den anderen Bundesländern schwankt es erheblich. Und Sie haben kein konsequentes Freiheitsverständnis. Sie sind ein Stück auch Ausdruck der Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien und vielleicht haben sie deswegen eine Chance, in mehr als ein Parlament gewählt zu werden.
Sie sind also eine ernstzunehmende Konkurrenz.
Aber nicht nur für die FDP. Auch für die Grünen. Zwischen uns und den Piraten gibt es sehr klare Unterschiede. Für uns heißt Individualismus nicht organisierter Individualismus. Auf den Menschen setzen, heißt für uns nicht, dass jeder Einzelne mit Ellenbogen nur um seiner selbst willen sich durchsetzt und nur auf seine Rechte sieht. Individualismus um jeden Preis, ohne Rücksicht auf andere, das ist nicht der Freiheitsbegriff der Liberalen.
Egoismus macht den Erfolg der Piraten aus? Aufseiten der Liberalen gibt es kein Versäumnis, das den Piraten den Wind in die Segel bläst?
Es ist wichtig, dass wir deutlich machen, dass das Internet nicht nur etwas für Freaks ist, sondern als eine der gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gesehen wird. Wir als FDP müssen viel deutlicher machen, was dieser Prozess für jeden Einzelnen bedeutet, und was wirklicher Individualismus ist und wo die Verantwortungskomponente ins Spiel kommt.
Was heißt das für die Politik: Regulierung im Netz?
Das heißt, wenn Regulierungspolitik, dann auf europäischer Ebene. Das heißt, kein Verbot von Anonymisierung, denn das wäre unverhältnismäßig. Regulierung muss eingebettet werden in die Erkenntnis, dass das Internet in 20 Jahren ganz anders die Gesellschaft prägen wird, als wir uns das im Moment vorstellen können. All das futuristisch und visionär über die nächsten zwei Jahre hinweg zu denken, das muss mit der FDP verbunden werden.
Sie waren die erste Frau im deutschen Parlament, die ein sogenanntes hartes Ministerium leitete. Wo sind die Frauen in der FDP?
Hier (zeigt auf sich und lacht). Ja, also wir haben zu wenig Frauen in der FDP, auch in unserer Mitgliedschaft, das ist leider so. Wir haben Frauen in Vorfeldorganisationen, also in Netzwerken, in denen Frauen nicht Mitglied sein müssen, aber 24 Prozent Frauenanteil ist zu wenig.
Könnten Sie da als Vorbild nicht ein bisschen mehr tun?
Ich mache sehr viel in meinem politischen Umfeld, bis hin zu Mentoring für Frauen. Aber vielleicht werden mit uns nicht so sehr die Themen verbunden, die für Frauen eine wichtige Rolle spielen. Da haben wir echt etwas, wo wir uns verbessern müssen.
Frauenförderung ist also kein FDP-Thema?
Nein, ich sage, es wird nicht genug mit uns verbunden. Wir fordern die Finanzierung von Betreuungseinrichtungen und nicht von Betreuungsgeld.
Müssen Sie daran arbeiten, dass die FDP weniger mit Machotum in Verbindung gebracht wird?
Dieses Etikett lassen wir uns nicht anheften, wir sind keine Machopartei. Wir brauchen mehr Frauen in den unterschiedlichen Funktionen, das ist richtig. Aber in der Wahrnehmung spielt auch eine Rolle, dass wir mit unserem Politikkonzept dem Einzelnen viel abverlangen.
Andere Parteien verlangen Frauen weniger ab?
Wenn sie stärker damit verbunden werden, dass der Staat mehr fördert, mehr absichert, mehr Garantien gibt, finden sich manche Frauen vielleicht eher wieder.
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