■ Lesen in einem Zug: Statt Uraltvideos
Die Deutsche Bahn AG entdeckt das Lesen neu. Seit gut einem halben Jahr rennen am Nachmittag die Zugbegleiter durch die Hochgeschwindigkeitszüge und verteilen die ICE-press, die „schnellste Zeitung der Welt“ (Eigenwerbung). Produziert wird das Blatt in Hamburg vom Spiegel-Verlag. Via GSM- Daten-Übertragungsnetz werden die Seiten per Funk von einem stationären Rechner direkt in die ICEs übertragen und dort über einen Laserdrucker reproduziert. Mit mageren vier Seiten im DIN-A3-Format dürfte die ICE-press, aber auch zu den dünnsten Zeitungen der Welt gehören (keine Eigenwerbung). Politik, Wirtschaft, Sport, Vermischtes, Wetterbericht und Börsenmeldungen, das Bahnblatt enthält alle Ressorts und Rubriken „klassischer“ Zeitungen. Noch ist die DB-Gazette kostenlos, wird aber nur an Passagiere der 1. Klasse ausgegeben. Allen anderen Reisenden empfiehlt die Bahn, nach abgelegten Exemplaren zu suchen oder bei den Zugbegleitern zu betteln.
Lesespaß für alle Bahnkunden verspricht dagegen ein anderes Projekt, das die DB mit der Stiftung Lesen ausgearbeitet hat. Während in vielen Städten und Gemeinden öffentliche Bibliotheken aus Sparzwängen schließen müssen, hat die Bahn in vorerst vier ICE-Zügen Leihbüchereien eingerichtet. 13 Titel stehen zur Auswahl. „Mehmet mein Falke“ von Yașar Kemal oder „Hannas Töchter“ von der Bestsellerautorin Marianne Frederiksson zum Beispiel. Die Ausleihe ist kostenlos, nur der Personalausweis muß als Pfand abgegeben werden. Zu finden ist die Bahnbücherei jeweils im Wagen 9, Abteil „Service & Information“, der ICEs Nr. 573, „Hannah Arendt“ (Kiel– Stuttgart), Nr. 576, „Roswitha von Gandersheim“ (Stuttgart–Hamburg), Nr. 775, „Breisgau“ (Hamburg– Basel) und Nr. 774, „Breisgau“ (Basel–Kiel).
Wer es lieber druckfrisch und ungelesen mag, kann in diesen ICEs auch das Taschenbuch der Bahn, „LeseReise“, kaufen. 12 DM kosten die 144 Seiten. Das Büchlein beschreibt die Bahnstrecke von Hamburg nach Stuttgart (und umgekehrt, wenn man das Buch umdreht). Mehr oder weniger bekannte AutorInnen werden vorgestellt.
Die allererste Fahrgastlesung in einem Zug der DB veranstaltet demnächst der Fußgängerschutzverein FUSS e.V. unter dem Motto „Der mobile Mensch in der Literatur“. Hier müssen die Bahnreisenden Texte während der Fahrt von Berlin- Charlottenburg ins brandenburgische Dannenberg selbst vorlesen. Es schließt sich eine rund vierstündige Winterwanderung nach Menz im Naturschutzgebiet Stechlin an. Die literarische Tagestour startet zu nachtschlafender Zeit am 21. Februar um 8.02 Uhr am Bahnhof Charlottenburg und kostet 20 DM. Reinhard Kuntzke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen