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Lenin als Platzhalter

„Protokoll eines Tribunals“ — die DDR, ihre Schriftsteller und der bundesdeutsche VS  ■ Von Anna Jonas

Die Aufarbeitung ihrer Geschichte wird den Deutschen in diesem Jahrhundert nun schon zum zweiten Mal von der — übrigens alles andere als unpersönlichen — Geschichte auf den Tisch des Hauses geknallt. Aber: Nicht etwa wie blutige Anfänger, eher wie wieder aufs Einfache verfallene Alleskönner proben sie (handstreichartig und mittels Rückblende mit V-Effekt) die Simulation eines Ex-Zustandes von Unschuld. Diese gesamt- oder alldeutsche Erscheinung kann somit sowohl als prä- als auch als post-dialektisches Prinzip gelten und gewinnt dadurch gewissermaßen ihre menschliche Dimension zurück. Ginge es nun ausschließlich nach dem Willen der vielen so handelnden Subjekte, wir hätten längst tabula rasa totale. Immer nach der Maxime: ab mit dem Dreck und Scherben unter den Tisch. Die Blicke derer, die immer sagen „da war doch noch was“, streiften bloß die geputzte Platte.

Weil aber Schriftsteller im allgemeinen und deutsche Schriftsteller im besonderen auch nur Menschen sind wie du und ich, putzen auch diese weg, um wie nie dabeigewesen zu werden. Und das ginge wohl glatt, wären manche nicht auch unter jenen, den Erinnerern und Mahnern, unter denen mit dem guten Gedächtnis für die finsteren Zeiten. Neun von ihnen stehen nun als Herausgeber (unter ihnen ist Christa Wolf, und das ist gut so — für ihre und unsere Geschichte) für das Protokoll eines Tribunals. Thema des schmalen Buches aus der aggressiv-roten rororo-aktuell-Reihe: die Ausschlüsse von neun DDR-Schriftstellern von 1979; es wird exemplarische und dokumentarische Auskunft gegeben über Verlauf und Folgen eines historischen Prozesses. Hier ist nachzulesen, wie eine paßgenaue Verbandsspeerspitze Ablauf und Beschlußfassung einer Schriftstellerversammlung mit ideologischer Trense und nahezu zügelloser Entschlossenheit auf die Zielvorgaben lenkt. Die Präsidiumsleitung lag bei einem erprobten Trio Infernal: Günter Görlich, Vorsitzender des Berzirksverbandes Berlin/ Hauptstadt; Gerhard Henninger, jahrezehntelang Generalsekretär des Dachverbandes, und Hermann Kant, seit 1978 als Nachfolger von Anna Seghers dessen Präsident.

Was die Schriftsteller zu beschließen hatten, hatte zuvor schon das SED-Politbüro festgelegt und wurde genauso von der eisernen Vorstandsriege eingebracht. Den Kern der Vorwürfe bildeten gezielt zusammengeraffte Verstöße gegen diverse Verbandsstatuten. Die Schriftsteller Kurt Bartsch, Adolf Endler, Stefan Heym, Karl-Heinz Jakobs, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Rolf Schneider, Dieter Schubert und Joachim Seyppel „erweisen sich der Mitgliedschaft im Schriftstellerverband der DDR als unwürdig“. Sie hatten — so das Verdikt — es für „richtig und angebracht“ gehalten, „vom Ausland her gegen unseren sozialistischen Staat, die DDR, die Kulturpolitik von Partei und Regierung und gegen die sozialistische Rechtsordnung in verleumderischer Weise aufzutreten“.

Der politische Hintergrund war gespenstisch. Die DDR-Volkskammer hatte — Metternich ließ grüßen! — u.a. ein Gesetz verabschiedet, wonach auch das „Sammeln und Weitergeben nicht geheimer Nachrichten“ strafbar wurde. Im Klartext: Jede Recherche, jedes Stück Manuskript oder einfach ein Dutzend angesammelter Briefe konnten — sofern es politisch gewollt war — zum Delikt erklärt und jeder beliebige Inhaber zur Kriminalisierung freigegeben werden. Was an Robert Havemann und Stefan Heym prompt vorexerziert wurde. Die neun „unwürdigen“ Schriftsteller hatten nun gewagt, in einem Brief an den damaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker gegen die „Koppelung von Zensur und Strafgesetzen“ zu protestieren, wodurch „das Erscheinen kritischer Werke verhindert werden“ solle. Und sie hatten gewagt, die feindliche Weltpresse über diesen Brief zu informieren. Sozialismus sei, hieß es weiter im Text, „keine geheime Verschlußsache“, „über seine Erfolge und Niederlagen, das heißt über unsere Erfahrungen, zu schreiben, halten wir für unsere Pflicht und für unser Recht“. Die Unterzeichner sprachen sich „gegen die willkürliche Anwendung von Gesetzen“ aus und diagnostizierten, Probleme der Kulturpolitik seien „mit Strafverfahren nicht zu lösen“.

Der so mutig formulierte Protestbrief wurde von der SED-Führung als eindeutige ideologische Kriegserklärung gewertet, und sie leitete auf direktem Weg, das heißt über die bewährten Praktiken des „demokratischen Zentralismus“, die Reaktion ein.

Unmittelbarer Anlaß für den Brief der neun war die von Staats wegen gegen Stefan Heym inszenierte Kriminalisierungskampagne (Heym hatte ohne DDR-Genehmigung in der BRD publiziert, auch das unterlag dem DDR-Strafrecht).Anlässe zu mannigfaltigem Aufbegehren hatte es in den Jahren und Jahrzehnten zuvor mehr als genug gegeben. Inhaftierung und Abschiebung von Jürgen Fuchs, die Ausbürgerung Biermanns, Publikationsverbot und Hausarrest für Havemann... Für diese unerhörten Vorgänge, für die perfiden Methoden gibt es nun endlich Belege. Offenbar wurde aber auch eine nahezu tragische Seite dieser blindwütigen SED-Politik: Die meisten der neun Ausgeschlossenen und viele der anderen, Jahrzehnte hindurch kritisierten und drangsalierten DDR-Schriftsteller standen oder stehen trotz allem (oder schon wieder) den Denkmustern einer irgendwie sozialistisch-kommunistisch verfaßten, weil hoffentlich gerechteren Gesellschaft ziemlich bis ganz nahe. Fakt aber ist: die Revolution wurde in der DDR nur behauptet und fand nie statt, und die Einheitspartei verheizte oder fraß ihre eigenen Kinder.

Den Original-Tonbandmitschnitt der Berliner Schriftstellerversammlung vom 7.Juni 1979 stöberte der im Frühjahr 1989 zum Stellvertretenden Vorsitzenden des (inzwischen aufgelösten) DDR-Schriftstellerverbandes gewählte Joachim Walter eher zufällig im ansonsten ziemlich gründlich gereinigten Verbandsarchiv auf. Walther vermerkt anerkennend in seinem besonders die Vorgeschichte des „Tribunals“ erhellenden Vorwort, daß manche Redner jenes Abends die Zustimmung zur Veröffentlichung des Protokolls nur schweren Herzens gaben. Einige warfen Walther PR-Geilheit vor. Und der Ex-präsident Hermann Kant hat sich — noch vorsichtig tastend — auf den Rechtsweg gemacht. In einer elend langen (nicht publizierten) Epistel biedert sich Kant, so ein Typ Zündelmann, beim gesuchten Alt- BRD-Rechtsbeistand mit degoutanter Bonhomie wahrlich an; der Text ist durchsetzt mit zig „Lieber Herr Dr.X“, und am Ende heißt es gar „Verehrter Dr...“. Auf 13 Seiten ein eher peinlich berührendes Coming Out einer heruntergekommenen Schmieren-Dialektik.

Der Wortlaut des Tribunal-Protokolls produziert beim Lesenden ein zunehmend verwirrendes Gemisch widersprüchlichster Gefühle: Fassungslosigkeit über so banal-brachiale Durchmarschmethoden seitens der handelnden Funktionäre, Bewunderung für den kleinen und großen Mut einzelner Redner, Irritation angesichts plattest-dialektischer Bekenntnisse und Überlebensversuche oder hochnotpeinlicher verbaler Hilflosigkeiten, die Denkanstrengungen allenfallens vortäuschten. Mit anderen Worten: Wie schon im Sozialismus steht auch im Mittelpunkt dieses Buches der Mensch. Das ist keine zynische, nur eine logische Schlußfolgerung. Lenin selig erkannte mit chirurgischer Klugheit die Künstler zu „Ingenieuren der menschlichen Seele“ und beschrieb damit exakt die ihnen zugewiesene Rolle in der Leninschen, disziplinarisch durchkontrollierten Volkspyramide: die Künstler als Fachmechaniker, gehobene Laufbahn, zuständig für die Berechenbarkeit jenes diffus und dunkel wabernden Teils des „alten Menschen“ als Eingreiftruppe, als Programmiergarde für das Filetstück der Unvernunft, jene unausrottbare, auf jeden Meta- Scheiß anspringende, stets unfaßbare, prähistorische Drüse. Das war Verheißung, Allmachtsphantasien waren geweckt. Lenin als Platzanweiser — viele, viele kamen, manche Künstler blieben, komponierten für ihn, malten und schrieben.

Das „Faszinosum“ wirkte, hüben und drüben. Das erklärt wohl auch dieses: Im abschließenden Dokumentarteil des Protokolls eines Tribunals, in dem Protestbriefe gegen den Ausschluß der neun (von einigen DDR-Schriftstellern und von ausländischen Schriftstellervereinigungen) sowie einige Schleimspuren hinterlassende Ergebenheitsadressen versammelt sind, findet sich keine einzige Zeile des Protests vom westdeutschen Schriftstellerverband (VS). Ein archivarischer Virus? Ein VS-typischer Fall von „Realpolitik“ und „Nichteinmischung“. Der westdeutsche Verband jener Zeit agierte und reagierte wie ein krummer Arm der richtigen (falschen) Politik. Und der Westberliner VS steckte unübersehbar in den oppositionellen Kinderschuhen: Auf einer Mitgliederversammlung im Juni 1979 beschloß er ganz geschäftsordnungsmäßig, „der Bundesvorstand möge beschließen...“. Der DDR-Koppelparagraph — Zensur mit Strafrecht — erinnerte damals die Westberliner VS- Kollegen vor allem an BRD-Verhältnisse — und das vermerkten sie natürlich „mit Sorge“. Das waren noch Zeiten!

Das kleine, aber gewichtige Buch Protokoll eines Tribunals gehört unbedingt in die Reihe der Bücher, die den von Lew Kopelew geprägten Stempel tragen müssen: „Aufbewahren für alle Zeit.“

Joachim Walther, Wolf Biermann u.a. (Hg.): Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979. rororo Taschenbuch, 138 Seiten, 8,80DM.

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