piwik no script img

Archiv-Artikel

Lemkes Triebdurchbrüche

Betr.: „Senat beschließt: keine Zigaretten“, taz bremen vom 28.09.05

Der Prozess der Rationalisierung (Zivilisation) – hat uns Norbert Elias gelehrt – beinhaltet immer drei Aspekte: Den wissenschaftlich-technischen, den ökonomischen und schließlich den sozialpsychologischen. In diesem Sinne bedeutet die Gesunderhaltung des Körpers aus vernünftigen, das heißt rationalen Gründen, nichts anderes, als die Funktionserhaltung der Ware Arbeitskraft. Das damit einhergehende wissenschaftsideologische Argument der „ewigen Jugend“ als Anreiz kann nicht ernst gemeint sein: Was sollen wir denn mit den vielen alten Leuten anfangen!?

Die Frage, was gesund ist und was krank macht, darf aber bitte diskutiert werden: Während ich also auf dem Sofa sitze und das abendliche Fernsehprogramm bei einer Pfeife und einem Glas Orangensaft genieße, also etwas für meine Gesundheit tue, werde ich medial Zeuge, wie mein oberster Dienstherr dieselbe ruiniert. Mit der Beteuerung, er habe wochenlang gesund gelebt, keinen Tropfen Alkohol getrunken, so und so viel Kilo abgenommen und hunderte Kilometer von Training hinter sich, startet der Mann in ein (…) mörderisches Abenteuer. Na weiß er denn, nicht, dass dieselben Halbgötter, die das Rauchen als Teufelswerk verdammen, schon lange rausbekommen haben, dass Marathonlaufen eine Sucht ist, die der Magersucht nicht unähnlich ist. Und auch die Gesundernährungsfanatiker gelten in Fachkreisen eher als Süchtige denn als Apostel.

Und bitteschön: Der erste Marathonläufer ist am Ziel tot umgefallen. So musste ich dann auch um das Leben und die Gesundheit des Bildungssenators fürchten (…). Wie sagte noch der alte Churchill: „No sports – cigars!“ Die Vernünftigen – so die Argumentation von Elias – müssen ihre unvernünftigen Triebe abspalten und verdrängen. So aber entziehen sich die irrationalen Triebimpulse der Ich-Kontrolle und es kommt zu Triebdurchbrüchen, die sich auf das nun nach außen projizierte Böse richten: Die Raucher sind die Ursache allen Übels! Da bin ich denn mal gespannt, wann der erste Raucher am Laternenpfahl hängt. JOACHIM PAETOW, Bremen