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Archiv-Artikel

Lektüre für die Einzelsäuferkoje

Darauf ein Guinness: William Trevors melancholisch stimmender Roman „Die Geschichte der Lucy Gault“

Trevor überzeugt durch die exakte psychologische Ausleuchtung seiner Figuren

Wie Heinrich Böll in seinem „Irischen Tagebuch“ berichtet, gab es in irischen Pubs früher kleine, mit Ledervorhängen abgeteilte „Einzelsäuferkojen“. Bestimmt wäre das ein angemessener Ort, um William Trevors neues Buch zu lesen. Oder ein einsames Landhaus, wie es Schauplatz der Handlung von „Die Geschichte der Lucy Gault“ ist. Denn wer nicht schon zuvor melancholisch gestimmt ist, nach der Lektüre ist er es allemal und könnte wohl ein Guinness vertragen.

Die Erzählung beginnt in Irland zur Zeit bürgerkriegsartiger Unruhen. „Am Abend des 21. Juni 1921 verwundete Captain Everard Gault einen jungen Mann an der rechten Schulter.“ Wie eine Zeitungsmeldung klingt der erste Satz dieses Romans. Und auch das weitere Schicksal, das mit dieser Tat seinen unaufhaltsamen Lauf nimmt, wird vom Autor in lakonischem Stil eines allwissenden Erzählers berichtet. Es sollte nur ein Warnschuss sein. Eindringlinge versuchten, das Haus niederzubrennen. Doch die Kugel trifft. Aus Angst vor Racheakten beschließt die protestantische Familie Gault, das katholische Irland zu verlassen. Ihre achtjährige Tochter Lucy jedoch, die unter keinen Umständen ihre Heimat verlassen möchte, reißt aus, wird vermisst und gilt fälschlicherweise als ertrunken. Voller Trauer verlassen die Eltern das Land und treten eine ruhelose Odyssee durch Europa an.

Die Passagen, in denen die sensible Intimität zwischen den Eheleuten und die an Selbstzerstörung grenzenden Schuldvorwürfe geschildert werden, zählen zu den besten des Romans. Leider widmet sich William Trevor seiner Hauptfigur nicht mit der gleichen Sorgfalt. In einer Parallelkonstruktion erfahren wir von der inzwischen im Wald verletzt aufgefundenen Lucy. Wie eine lebende Tote vegetiert sie, erzogen von den zurückgebliebenen Bediensteten, vor sich hin, einzig damit beschäftigt, sich lesend in Romanwelten zu flüchten. Lucys trister Alltag ist leider auch recht trist zu lesen. Dass das Telegramm mit der Nachricht „Lucy lebt“ bei den Eltern nie ankommt und selbst die Bemühungen eines Privatdetektivs nichts ausrichten können, ist so unrealistisch wie nervenaufreibend. Das ganze Ausmaß der Tragödie wird offenbar, als der Vater – die Mutter ist mittlerweile verstorben– Jahre später nach Irland zurückkehrt. Denn zwischen Vater und Tochter ist keine Verständigung möglich. Lucy hat vergeblich gewartet und dabei versäumt, sich ein eigenes Leben aufzubauen. „Welch grausame Dummheit hatte sie bloß in Bann gehalten? Dass sie jahrelang hartnäckig auf das Gestammel eines alten Mannes gewartet hatte?“

William Trevors Roman ist durch und durch depressiv. Alle Protagonisten, selbst den alles auslösenden Brandstifter hält das tragische Ereignis in seinem Bann. Das ist so mythologisch schicksalhaft, dass Trevor nicht zu Unrecht als irischer Homer bezeichnet wird. Der im Jahre 1928 in der Grafschaft Cork geborene Schriftsteller wanderte bereits in den Fünfzigerjahren nach England aus und gehört seit langem zu den erfolgreichsten Erzählern im englischen Sprachraum. Ob Thriller oder Sozialstudie, in seinen Romanen und Erzählungen überzeugt Trevor mit einer exakten psychologischen Beschreibung seiner Figuren. Sie alle haben einen Hang zum Fatalismus. Sie ergeben sich klaglos ihrem Schicksal, müssen ins Exil oder in die geschlossenen Abteilungen der Psychiatrie.

Doch anders als in seinen bisherigen Büchern ist die Tragik in „Die Geschichte der Lucy Gault“ nicht mit einer Anklage an die Gesellschaft verbunden. Der auf über 300 Seiten erzählte Zeitraum von 80 Jahren erscheint nahezu zeitlos. Die Umstände in Irland und der Zweite Weltkrieg dienen einzig als Hintergrund, um den lähmenden Stillstand im Leben der Lucy zu untermauern. Das lässt das Buch altmodisch und allegorisch erscheinen. Was auch mit der Sprache zusammenhängt, die der Autor verwendet. „Wie die Felsoberfläche entlang der Küste von den Wellen ausgehöhlt wurden und Napfschnecken sich ansiedelten, die verdeckten, was darunter lag, so ließ die Zeit den bloßen Anschein zur Wahrheit werden“, heißt es da beispielsweise so poetisch wie nebulös.

Der Übersetzerin Brigitte Jakobeit ist dabei kaum ein Vorwurf zu machen. Sie hat Trevors Programm eins zu eins umgesetzt. Dem ins Deutsche übertragenen Erzählfluss ist das eher abträglich, etwa wenn er sich jeglicher Logik entwindet: „Er würde die Arbeit bald in Angriff nehmen, beschloss Henry, und wusste, er würde es nicht tun.“ Von den zahllosen Banalitäten ganz zu schweigen, die anscheinend eine gewisse Bodenhaftung gewährleisten sollen: „Und wie regelte sie es eigentlich mit dem Zahnarzt?“

Wer in diesem Buch Tiefgang sucht, wird enttäuscht. Aber die fatalistische Unaufhaltsamkeit des Geschehens zieht den Leser unweigerlich in einen trieftraurigen Sog. Nicht umsonst spielt Trevors Geschichte in einem Land, das schon immer fürs Tragische herhalten musste und wohl nicht ohne Grund der Melancholie in Einzelsäuferkojen frönt. GUSTAV MECHLENBURG

William Trevor: „Die Geschichte der Lucy Gault“. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, 304 S., 22,90 €