Leipziger Buchpreis für zwei Historiker: Die innere Nähe von Hitler und Stalin
Mittwoch erhalten die Historiker Kershaw und Snyder den Preis für Europäische Verständigung. Sie beschreiben die Mechanik der „Bloodlands“ im Machtbereich Hitlers und Stalins.
Im Jahr 1943 trat der seit den 1920er Jahren überzeugte Nationalist Ferdinand Schörner in die NSDAP ein und wurde zwei Jahre später, am 5. April des Jahres 1945 und drei Wochen vor Hitlers Selbstmord, von ihm zum Generalfeldmarschall ernannt. Im Februar 1945, sowjetische Truppen hatten längst die deutschen Grenzen überschritten, richtete Schörner, damals Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, ein geheimes Schreiben an andere Oberbefehlshaber und kommandierende Generäle. Darin lobte er nicht nur den Fanatismus und die Brutalität der einfachen Soldaten der Ostfront, sondern bemerkte auch, dass Stalin nichts erreicht hätte, wenn er mit bürgerlichen Methoden Krieg geführt hätte.
2012 erhalten zwei angelsächsische Historiker, Ian Kershaw und Timothy Snyder, den „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“. Ausgezeichnet werden Kershaws ebenso panoramatische wie tiefenscharfe Studie „Das Ende – Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45“ (DVA, 2011) sowie Snyders aufrüttelnde Untersuchung „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ (C. H. Beck, 2011).
Beide befassen sich mit Fragen, die dazu angetan sind, das historische Selbstverständnis der Deutschen im Allgemeinen und der Linken im Speziellen aufzurütteln. Denn noch immer tun sich viele, für soziale Gerechtigkeit brennende, alles in allem liberal gesonnene Menschen schwer damit, Hitler und Stalin nicht nur zu vergleichen, sondern auch moralisch gleichzusetzen. Wäre doch ohne den Opfermut der Völker der Sowjetunion der Nationalsozialismus nicht zu besiegen, der Holocaust nicht zu beenden gewesen.
Snyder spricht von der Nähe der Systeme
Noch 2010 etwa gab der linksradikale französische Philosoph Alain Badiou in London zu Protokoll, dass Chruschtschows Verdammung Stalins ein Fehler gewesen sei, da dessen Name für Millionen anonymer Kämpfer – ebenso wie die Namen von Rosa Luxemburg und Che Guevara – für die Idee des Kommunismus stand.
Nun sind die Verbrechen Stalins seit 1956 bekannt, ebenso wie die Kooperation des NS-Regimes mit der stalinistischen Sowjetunion am Vorabend von Hitlers Überfall auf Polen nichts Neues ist; dennoch rückt Snyders „Bloodlands“ die innere Nähe der beiden Diktatoren in ein neues Licht. Als „Bloodlands“ bezeichnet er ein Gebiet, an dessen nördlicher Grenze Leningrad, im Osten Smolensk, im Süden Odessa und im Westen Warschau liegen, also Polen, die baltischen Staaten, Weißrussland und die Ukraine.
In diesem, über Jahre unter Stalins und Hitlers Herrschaft stehenden Gebiet, haben die miteinander in Hass und Feindseligkeit verbundenen Diktatoren Hitler und Stalin gleichsam kooperativ nie zuvor gekannte Massenmorde an der einheimischen Bevölkerung begangen bzw. in diesem Niemandsland des Todes von weither deportierte Menschen umbringen lassen.
Snyder scheut sich nicht, eine vergleichende Bilanz zu ziehen: „Während des Krieges ermordeten die Deutschen ebenso viele Nichtjuden wie Juden, vor allem durch das Verhungernlassen sowjetischer Kriegsgefangener (über drei Millionen) und der Einwohner belagerter Städte (über eine Million) oder durch die Erschießung von Zivilisten bei ’Vergeltungsmaßnahmen‘ (fast eine Million, vor allem Weißrussen und Polen).“
Das Massenmordregister Stalins
Dem stellt der Autor freilich Stalins Massenmordregister gegenüber, das in Friedenszeiten noch länger gewesen sei: „Im Namen der Verteidigung und Modernisierung der Sowjetunion war Stalin für den Hungertod von Millionen und die Erschießung einer Dreiviertelmillion Menschen in den dreißiger Jahren verantwortlich. Stalin tötete seine Bürger nicht weniger effizient als Hitler die Bürger anderer Staaten. Von den 14 Millionen Menschen“, so Snyders Resümee, „die zwischen 1933 und 1945 in den Bloodlands mit Bedacht ermordet wurden, geht ein Drittel auf die Rechnung der Sowjetunion“.
Die Motive von Stalins Mordpolitik waren vielfältig: Angst vor innerparteilicher Opposition, Misstrauen gegen andere Ethnien, namentlich der Polen als Agenten der Konterrevolution, sowie vor allem der ukrainischen Bauern als Hemmnisse der Kollektivierung; als Personen, die angeblich nicht bereit waren, ihre Erträge dem Staat zur Verfügung zu stellen.
Die Hungersnot in der Ukraine 1933 war von Stalin zentral geplant und führte zu Szenen, die Europa lange, lange nicht mehr kannte, zu offenem Kannibalismus: Eltern verzehrten gestorbene Babys, ukrainische Kinder sagten ihren Geschwistern: „Mutter hat uns gesagt, wir sollten sie essen, wenn sie stirbt.“
Die gepeinigte Bevölkerung der „Bloodlands“ musste nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion, der den sonst so misstrauischen Stalin allen Warnungen zum Trotz aus heiterem Himmel traf, eine weitere Welle von Mord und Hunger über sich ergehen lassen – jetzt mit dem spezifischen Akzent des massenhaften Judenmordes, der von den Einsatzgruppen der SS hinter der Front, bei Mitwisser- und Mittäterschaft der Wehrmacht, kaltblütig verübt wurde.
Der Totalitarismus nach dem 20. Juli
Die nach Stalingrad zurückweichenden Soldaten der Ostfront meinten daher zu wissen, was sie bei einem Sieg der Sowjetunion erwarten würde, und so sieht Kershaw in den Erfahrungen der Ostfront einen der Faktoren, die den erstaunlichen Widerstandswillen der Deutschen erklären. Provozierender dürfte die Analyse der Folgen des missglückten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 sein: Nicht nur, dass sich viele Deutsche jetzt wieder mit dem „Führer“ identifizierten, nein, jetzt erst gelang es Hitler und seinen Kumpanen, das Deutsche Reich zu einem totalitären Regime umzuformen.
Auch Kershaw zieht Bilanz: „In den zehn Monaten zwischen Juli 1944 und Mai 1945 starben weit mehr Zivilisten als in den vergangenen Kriegsjahren. Insgesamt kamen durch Luftangriffe der Alliierten über 400.000 Menschen ums Leben. Der sowjetische Einmarsch in die Ostgebiete forderte in der Zivilbevölkerung rund eine halbe Million Menschenleben.“
Aber auch das Militär musste das Scheitern des Attentats mit einem hohen Preis bezahlen: „18,2 Millionen haben im gesamten Kriegsverlauf gedient. 5,3 Millionen haben davon ihr Leben verloren, bis Juli 1944 waren es 2,7 Millionen Tote. In den letzten zehn Monaten dann starben 2,6 Millionen deutsche Soldaten (davon über 1,5 Millionen an der Ostfront).“
Kershaw macht es sich bei der Beantwortung der Frage nach dem Durchhaltewillen der Deutschen nicht leicht und erwägt mindestens zehn verschiedene Faktoren. Sie alle – von der Angst vor sowjetischer Vergeltung, dem Wissen der unzähligen organisierten Nationalsozialisten, nichts zu verlieren zu haben, Fatalismus, schlechtem Gewissen, Patriotismus und schlichter Furcht vor dem Terror von Wehrmacht- und Parteistreifen, vor Todesurteilen verhängenden Schnellgerichten – werden erwogen.
Schließlich kommt Kershaw, dem wir eine unübertroffene Biografie Hitlers verdanken, zu einem überraschenden, gewiss für heftige Debatten sorgenden Schluss: Am Ende war es denn doch Hitlers persönliche Herrschaft, eine paradoxe charismatische Herrschaft ohne Herrschaft, die die Deutschen zum Durchhalten bewog: „So uneins die herrschenden Eliten waren, besaßen sie weder den gemeinsamen Willen, noch verfügten sie über die Mechanismen der Macht, um Hitler daran zu hindern, Deutschland ins Verderben zu stürzen. Das war das Entscheidende.“
Intellektuelle Aufräumarbeiten
Ein Preis für europäische Verständigung? Vor dem Hintergrund, dass lettische Angehörige der Waffen-SS bis heute jedes Jahr als antikommunistische Widerstandskämpfer paradieren und in Ungarn der NS-Kollaborateur Horthy als Nationalheld gefeiert wird, fällt es schwer, sich ein Europa als gemeinsamen Erinnerungsraum der Schrecken des 20. Jahrhunderts vorzustellen. Bis es – möglicherweise – so weit kommt, sind jedenfalls noch einige intellektuelle Aufräumarbeiten zu leisten.
Nicht zuletzt an der neuerdings wieder so beliebten „Totalitarismustheorie“, der Kershaw im Blick auf den NS-Staat in seinen einleitenden Bemerkungen eine schroffe Abfuhr erteilt, um am Ende einzuräumen, dass Hitlers Deutschland nach dem 20. Juli 1944 dem Idealtypus totalitärer Herrschaft durchaus glich.
Das aber heißt im Umkehrschluss nichts anderes, als dass Verbrechen wie Holocaust, Ermordung von Kranken und Minderheiten und die massenhafte Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener durch Deutsche vor dem Juli 1944 keines totalitären Terrors bedurften, sondern in arbeitsteiliger Täterschaft von untereinander konkurrierenden Fraktionen und Eliten des deutschen Bürgertums ausgedacht und von sehr, sehr vielen „einfachen“ Volksgenossen durchaus nicht ungern exekutiert wurden.
Bei aller – nicht nur Vergleichbarkeit, sondern auch – Gleichheit der stalinistischen und nationalsozialistischen Verbrechen ist dies die entscheidende Differenz: Während es in Stalins Sowjetunion der Diktator sowie wechselnde, auf Abruf bereitstehende, später umgebrachte Komplizen bzw. Mordcliquen waren, die die Verbrechen exekutierten, war es in Deutschland eine ganze bürgerliche Gesellschaft, die – wie Kershaw es ausdrückte – „dem Führer entgegenarbeitete“ und deswegen bis zum bitteren Ende mitmachte.
Das ist – bei aller sonstigen Gemeinsamkeit – der entscheidende Unterschied von Stalinismus und Nationalsozialismus.
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