: Leiche ärgert Kutschma
Nach dem Mord an einem ukrainischen Journalisten sind jetzt Tonbänder aufgetaucht, die möglicherweise auch den Präsidenten belasten
BERLIN taz ■ Die Tage des ukrainischen Staatspräsidenten Leonid Kutschma als erster Mann seines Landes könnten gezählt sein. Der Grund: eine Leiche ohne Kopf und Tonbandmaterial, dem zufolge Kutschma einer der möglichen Drahtzieher des Mordes gewesen sein könnte.
Der Torso war am 3. November in der Nähe von Kiew entdeckt worden. Schmuckstücke deuten darauf hin, dass es sich bei dem Toten um den Journalisten Georgi Gongadse handeln könnte. Gongadse, der als Mitherausgeber der Internet-Zeitung „Ukrainska Pravda“ bevorzugt über Korruptionsskandale bis in höchsten Regierungskreise schrieb, ist seit dem 16. September verschwunden.
Am 28. November ließ Alexander Moros, Chef der Sozialistischen Partei und Gegenkandidat Kutschmas bei den Präsidentenwahlen im vergangenen Jahr, eine Bombe platzen. Moros machte Tonbänder mit Mitschnitten von Gesprächen öffentlich. Die Inhalte sind nicht weniger delikat als die am Plausch Beteiligten. So tauschen sich drei Männer darüber aus, wie Gongadse am besten aus dem Weg zu räumen sei. Die Stimmen der Sprecher sollen Leonid Kutschma, Innenminister Juri Krawtschenko und dem Chef des Präsidialamtes, Wladimir Litwin, gehören. Das Material will Moros von einem Offizier des ukrainischen Sicherheitsdienstes erhalten haben.
Kutschma reagierte prompt. In einer pathetischen Fernsehanprache an seine Landsleute Mitte vergangener Woche bezeichnete der Präsident die jüngsten Ereignisse als dreckiges Spiel und Versuch, die Ukraine in ein Chaos zu stürzen. Das werde er nicht zulassen. Zwei Tage später unterzeichnete Kutschma ein Dekret, das die Pressefreiheit in der Ukraine stärken soll.
Doch trotz der Rührigkeit des Präsidenten nährt eine Reihe von Ungereimtheiten in diesem Fall den Verdacht, dass Kutschma etwas zu verbergen haben könnte. Obgleich die forensischen Untersuchungen der Leiche bereits seit einem Monat laufen, liegen immer noch keine offiziellen Informationen über deren Identität vor. Drei Parlamentsabgeordnete, die in der vergangenen Woche im westlichen Ausland den auskunftsfreudigen Sicherheitsdientoffizier samt seiner Aussage auf einem Video verewigt hatten, wurden bei ihrer Rückkehr am Flughafen festgehalten und mussten dem Zoll ihr Material aushändigen. Nach 20 Minuten erhielten sie es stark beschädigt zurück. Dennoch soll das Band noch in dieser Woche veröffentlicht werden. Für einen der drei gefilzten Emissäre, Sergej Holowaty, ist nach dem Gespräch mit dem Offizier jetzt eins klar: Er sei überzeugt, dass das Tonmaterial von Moros authentisch sei. Auch der ominöse Informant hat mittlerweile einen Namen: Mykola Melnischenko. In einem Interview, das die „Ukrainska Pravda“ jetzt mit Melnischenko veröffentlichte, erklärt der Offizier, warum er die Gespräche Kutschmas aufgezeichnet und weitergegeben habe. Damit habe er „die kriminellen Aktivitäten des Regimes“ unterbinden wollen.
Dessen Verantwortliche stehen jetzt zunehmend unter Druck. „Die Gesellschaft hat sich entwickelt, die Menschen wollen wissen, was passiert. Das Ganze könnte so auch zu einer Lehrstunde für die Politiker werden“, sagt Larissa Iwschina von der Tageszeitung Den. Und in einem offenen Brief der Redakteure der Kiew Post an Kutschma heißt es: „Wenn Sie weiter mit der Wahrheit hinter dem Berg halten, wird das Vertrauen der Menschen in Sie immer weiter sinken.“ BARBARA OERTEL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen