Lebensläufe: Spielräume unterm Hakenkreuz
Was möglich war im Fußball während der Nazi-Zeit, fragt eine Ausstellung in Hamburg. Sie erzählt von Tätern, Zwangsarbeitern und Juden.
HAMBURG taz | Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, im Sommer 1939, schloss sich der 18-jährige Fußballer Rolf Rohrberg dem VfB Peine an. Doch obwohl der junge Mann in den folgenden Jahren nur bei gelegentlichen Heimaturlauben für den Verein spielen konnte – das „Großdeutsche Reich“ führte Krieg, und Rohrberg musste mit – tauchte sein Name regelmäßig in der Fußball-Woche und im Kicker auf (solange diese Publikationen noch erscheinen konnten). Denn der gebürtige Braunschweiger schoss Tore: für den VfB Königsberg, den Luftwaffen-Sportverein Stettin, Hertha BSC und am 29. April 1945 – als britische Truppen bei Geesthacht frühmorgens schon die Elbe überquert hatten – erstmals für den HSV gegen Altona 93.
Als „Gastspieler“ durfte Rolf Rohrberg, je nach Standort, in örtlichen Vereinen mitwirken. Für alle anderen Kriegs- oder Arbeitsdienst leistenden Sportler galt dasselbe. Denn auch wenn alles den Kriegszielen Nazideutschlands unter- und nachgeordnet war, sollte der Ball weiterrollen. Eigens dafür hatte der Reichssportführer, schon 1933 von höchster Stelle eingesetzt, besondere Regularien erlassen.
Unter ganz anderen Bedingungen spielte Tadeusz Brzeski Fußball. Als polnischer Zwangsarbeiter versuchte er seit August 1940 zurechtzukommen, so gut es ging; in seiner karg bemessenen freien Zeit zog es ihn, manchmal verbotswidrig ohne das „P“-Zeichen, aus dem Barackenlager in Hamburg-Billstedt auf Fußballplätze, wo er Spiele mit Mannschaften aus anderen Lagern organisierte und fotografierte. Brzeski überlebte den Krieg – so wie Polen die Besetzung und vorübergehende Zerschlagung durch Nazideutschland überlebte.
Der Jude Martin Stock war vor 1933 ein bekannter Schiedsrichter auf Hamburgs Plätzen. 1941 wurde er deportiert und nacheinander in elf Lager gesperrt. Am 15. April 1945 wurde er in Bergen-Belsen befreit. Nach dem Krieg kehrte Martin Stock nach Hamburg zurück und stellte sich und seinen unbelasteten Namen dem Fußball als Organisator und Funktionär zur Verfügung..
Emil Martens dagegen hatte 1933 die autoritäre Neuausrichtung des deutschen Sportes durchaus begrüßt. Als Vereinspatriarch des Hamburger SV konnte er darauf verweisen, dort schon fünf Jahre vorher die Satzung außer Kraft gesetzt und die demokratischen Strukturen in seinem Verein durch eine Art Führerprinzip ersetzt zu haben. Dies erlaube nun „ein leichtes Einordnen in den neuen Staat“. Ein Jahr später verlangte man höheren Orts seine Absetzung als Vereinsführer – so hieß das Amt jetzt –, weil er im HSV „schwarze Kassen“ und verkapptes Profitum geduldet habe. Die Vereinsversammlung zeigte einen gewissen Trotz und wählte (!) Martens zum Ehrenvorsitzenden. Das nützte ihm etliche Jahre später nicht mehr das Geringste, als er wegen Homosexualität verurteilt wurde und sich, um dem KZ zu entgehen, auf eine „freiwillige“ Kastration einlassen musste.
Von solchen Personen erzählt eine kleine, sehr gelungene Ausstellung, die in diesen Tagen in der Diele des Hamburger Rathauses eröffnet worden ist. Und zwar nicht nur von einheimischen, obwohl der Titel „Hamburger Fußball im Nationalsozialismus“ den lokalen Schwerpunkt schon anzeigt. Überall zwischen Kiel und Wilhelmshaven hat sich in den zwölf NS-Jahren auf norddeutschen Fußballplätzen und um sie herum Exemplarisches ereignet, das den Blick auf die Sportpolitik des Regimes erhellen kann, und ein bisschen auf die eigene Welt, die der Fußball auch damals war – für Täter, Opfer und die große Zahl derer, die eigentlich mit Politik in Ruhe gelassen werden und einfach ihren Fußballverein unterstützen wollten.
Die Aussichten mögen den meisten 1933 nicht schlecht erschienen sein, sofern sie nicht im Arbeitersport organisiert waren. Der nämlich wurde schnell und vollständig zerschlagen, seine Vereine verboten, in zahlreichen Fällen Unterlagen und Sportgeräte öffentlich verbrannt. Es traf den traditionsreichen Arbeiter-Turn- und Sportbund genauso wie die zuletzt von ihm abgespaltenen Vereine der Roten Sporteinheit. Ehemalige Mitglieder durften immerhin Vereinen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) beitreten, sofern sie dem Marxismus entsagten und zwei politisch unverdächtige Bürgen benennen konnten.
Anders die – zahlenmäßig stärkere – Masse der „bürgerlichen“ Sport- sowie Turnvereine. Frühzeitig und sehr weit oben war die Entscheidung gefallen, den Vereinssport bestehen und gewähren zu lassen, was auch hieß: ihn gegen weitaus radikalere Vorstellungen verschiedener NS-Organisationen in Schutz zu nehmen. Die Ausstellung präsentiert ein Schreiben des Reichsinnenministers Frick vom 13. Mai 1933 an die Landesregierungen, in dem er „seinen“ Reichssportkommissar Hans von Tschammer und Osten präsentiert, der alles straffen und zentralisieren, jedoch „Tradition und Eigenleben der Verbände“ wahren werde.
Tatsächlich ist dem Vereinssport, gemessen an praktisch allen anderen Sektoren des öffentlichen Lebens, in der ersten Zeit (bis nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin) eine relativ weit gehende Selbstverwaltung gelassen worden. Zwar wurden alle föderativen Strukturen, auch die im DFB, aufgelöst und der Verband selbst später dem Fachamt Fußball im Reichsbund für Leibesübungen (RL) gleichgeschaltet, doch durften die „Vereinsführer“ weiterhin von den Mitgliedern gewählt werden und die politische Kontrolle bestand wesentlich aus der Aufsichtsfunktion von „Gausportführern“ der Partei.
Die bekamen nicht immer alles mit: Als Werder Bremen mit Hilfe der Martin Brinkmann AG eine Mannschaft aus namhaften Spielern zusammenzustellen begann und den Amateurstandpunkt weiträumig umging, kam das erst heraus, als man 1934 den Nationalspieler Edmund Conen versucht hatte anzuwerben und dieser nicht dichthielt. Langfristige Sperren und andere Maßregeln waren die Folge.
Erst 1937 wurde der Reichsbund offiziell der NSDAP unterstellt, noch später der DFB formal abgewickelt. Der berüchtigte „Arierparagraf“, der Juden die Mitgliedschaft in Reichsbund-Sportvereinen untersagte, war in den Anfangsjahren – bis nach den Olympischen Spielen von Berlin – nicht offiziell verordnet. Dass zahlreiche Vereine schon frühzeitig von sich aus damit begonnen hatten, jüdische Mitglieder auszuschließen oder hinauszuekeln, und auch der DFB früh in diesem Fahrwasser schwamm, ist ein besonders trübseliges Kapitel der Sportgeschichte.
Wo übrigens direkte politische Einmischung in den Fußball stattfand, ging sie nicht selten nach hinten los. Die Misserfolge der Nationalmannschaft bei Olympia 1936 und der Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich, wo sie über das Achtelfinale nicht hinauskam, waren nicht zuletzt auf unmittelbare Vorgaben und Anweisungen an die Reichstrainer zurückzuführen und das dürfte jeder, der etwas von der Materie verstand, geahnt haben.
Als Joseph Goebbels im September 1942 nach einem 2:3 gegen Schweden in Berlin notierte: „100.000 sind deprimiert aus dem Stadion weggegangen. Den Leuten liegt der Gewinn dieses Fußballspiels mehr am Herzen als die Einnahme irgendeiner Stadt im Osten“, war bald Schluss mit Länderspielen.
Ob die NS-Sportpolitik von Beginn an der Kriegsvorbereitung dienen sollte und ob sie diesen Zweck erfüllt hat, oder ob es vorrangig darum ging, sich beim Volk Zustimmung und Dankbarkeit zu sichern, darüber ist noch manch Historikerstreit zu erwarten. Sicher scheint, dass eine grundsätzlich andere NS-Sportpolitik die Olympischen Spiele 1936, die Hitler persönlich wichtig waren, und die Teilnahme an Fußball-Weltmeisterschaften hätte gefährden können und dass, andererseits, der DFB wohl aus zwei Gründen solange weiterbestehen konnte: weil man seinen großen Funktionärs- und ehrenamtlichen Mitarbeiterstab einbinden musste und nebenbei auch, weil es lästigen Streit über den Immobilienbesitz des DFB zu vermeiden galt.
Eine Stärke der Hamburger Ausstellung ist, dass sie – trotz deutlicher politischer Positionierung – sich nicht in theoretischen Erwägungen verliert, sondern persönliche Schicksale in den Mittelpunkt stellt, sodass man ermessen kann, wer unter damaligen Bedingungen welche persönlichen Optionen noch hatte oder nicht mehr hatte.
Kuratiert hat die Ausstellung ein Team der Gedenkstätte Neuengamme um Herbert Diercks. Und so liegt nahe, dass auch die Geschichte des „Tull“ Harder vorkommt, Fußballstar der 1920er-Jahre, später SS-Hauptscharführer, im KZ Neuengamme auf untergeordnetem Posten, gegen Kriegsende aber Kommandant zweier Außenlager und 1947 als Kriegsverbrecher verurteilt, und die seines Mitspielers und Antipoden Asbjørn Halvorsen, des norwegischen HSV-Nationalspielers, der Verbindungen zum Widerstand hatte und ab 1943 in mehreren Lagern in Norwegen und Deutschland inhaftiert war und nur knapp überlebte.
Rolf Rohrberg ist übrigens nicht erwähnt. Nach dem Krieg bei Eintracht Braunschweig, wurde er Lehrer in Hamburg und war langjähriger Oberligaspieler hiesiger Vereine, danach Trainer. Er ist 1976 verstorben. Wer mag, kann seinen Namen im Onlinearchiv des Spiegel suchen (Nr. 2/1950). Eine interessante kleine Geschichte aus der Nachkriegszeit, in der der Ball wieder ideologiefrei gekickt werden konnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe