: Lebendig begraben
Ein großartiger Roman über die Finsternis und das Schweigen in Spanien nach Ende des Bürgerkriegs 1939: „Die blinden Sonnenblumen“ von dem 2004 verstorbenen Autor und Verleger Alberto Méndez
von KATHARINA GRANZIN
In den meisten europäischen Ländern ist der Spanische Bürgerkrieg ein wichtiger Teil des kulturellen Gedächtnisses. Scharenweise zog er in den Dreißigerjahren ausländische Intellektuelle und Schriftsteller an, denen die Sache der Republik am Herzen lag. Viele kamen, um mit den Internationalen Brigaden gegen die aufständischen Franco-Truppen zu kämpfen, viele auch, um über den Krieg zu schreiben: Orwell! Hemingway! Koestler!, und manche versuchten gar beides zugleich. Der Spanische Bürgerkrieg, ein Mythos schon, während er noch im Gange war, ein Trauma, nachdem er verloren war, erwies sich noch Jahrzehnte später als überaus attraktives Thema für Literatur und Film. Doch mit dem, was auf ihn folgte, blieben die Spanier allein, literarisch wie politisch. Die Welt hatte nun anderes zu tun.
1939 hat Franco gesiegt, und während Hitlerdeutschland sich anschickt, den Rest Europas zu überrollen, ist in Spanien der Krieg vorbei, das Land gefallen in Finsternis und Schweigen. Die ersten Jahre dieser dunklen Zeit umspannt „Die blinden Sonnenblumen“, das einzige Buch des 1941 geborenen Alberto Méndez, der, nur Monate nach Erscheinen seines Romans, Ende letzten Jahres starb. Als Verleger antifaschistischer Literatur und Mitglied der kommunistischen Partei hatte Méndez große Teile seines Lebens im Untergrund verbracht, im literarischen Leben Spaniens stets nur im Hintergrund gewirkt.
Mit seinem späten Debüt als Autor gelang ihm ein Überraschungscoup, für den er noch zu Lebzeiten mit dem Preis der spanischen Literaturkritik ausgezeichnet wurde. In diesem Herbst folgte der Nationalpreis, der damit erstmals in seiner Geschichte posthum verliehen wurde. In hochkonzentrierter Form tut dieses schmale Buch etwas, das nur die Literatur kann, aber auch sie nur sehr selten: Es macht Dinge vorstellbar, die man sich nicht vorstellen kann, weil es nicht auszuhalten wäre, wenn man es täte. Doch wenn sie wie hier verwandelt erscheinen, verdichtet, in jedem Wortsinn, zu Literatur, werden sie, wenn schon nicht erträglich, so doch erlebbar in einer Mischung aus Grauen und ästhetischem Genuss.
Die Schönheit von Méndez’ Sprache – in der deutschen Ausgabe die Sprache der Übersetzerin Angelica Ammar – liegt in der lakonischen Präzision des Wortes, der Genauigkeit jeder Beobachtung: in der Poesie des bewusst erlebten Augenblicks. So als habe die Todesnähe, in der die Protagonisten sich sämtlich befinden, auch das Bewusstsein des Autors beim Schreiben aufs Äußerste geschärft. Des Autors, muss man sagen, nicht des Erzählers. Denn die Erzählebenen wechseln häufig in diesem Roman, der unablässig Briefe, Tagebücher und andere Schriftstücke zitiert und zwischendurch auch mal eine Herausgeber- und eine Erzählerfigur einführt. Der Roman ist somit als Werk umso erstaunlicher, als er nicht zuletzt durch den virtuosen Umgang mit verschiedenen Metaebenen auch noch zum philosophischen Essay über die Literatur und das Schreiben selbst wird, ohne dass dieses hochkomplexe literarische Verfahren sich jemals in den Vordergrund schöbe.
Wenige Tage vor der Kapitulation Madrids und dem endgültigen Sieg der Franco-Truppen setzt das Buch ein. Vier zum Teil locker verschränkte Episoden, die mit „Erste Niederlage: 1939“ bis „Vierte Niederlage: 1942“ betitelt sind, bilden eine Art Chronologie der ersten Nachkriegszeit. Es wird von Menschen erzählt, die wissen, dass fast nichts sie noch vom Tode trennt. Ein Hauptmann der franquistischen Truppen ergibt sich dem Feind, obwohl dessen Kapitulation kurz bevorsteht, und liefert sich somit scheinbar unnötig dem sicheren Tod aus. Er wird erschossen, überlebt jedoch auf wundersame Weise, lebendig begraben in einem Massengrab. Dieses Lebendig-Begrabensein ist eine zentrale, sehr starke Metapher für den gesamten Roman. Die anderen drei Episoden spielen sämtlich in geschlossenen, nach außen abgegrenzten Räumen, die allein dadurch, dass sie Menschen die (Bewegungs-)Freiheit verwehren, zum Zwischenreich zwischen Leben und Tod oder gar zum Grab werden.
In „Zweite Niederlage: 1940 oder Im Vergessen gefundenes Manuskript“ wird ein Schriftstück kolportiert, das in einer verlassenen Berghütte gefunden wurde, daneben „das Skelett eines Erwachsenen und den erstaunlich gut erhaltenen, nackten Körper eines Säuglings [...]; ein Wolfsfell und Bergziegenwolle, Wildschweinborsten und getrocknete Farnblätter bedeckten sie“. Das Manuskript ist ein Tagebuch, das ein junger Dichter von achtzehn Jahren, der mit seiner hochschwangeren Freundin vor der Falange über die Berge hatte fliehen wollen, während seiner letzten Monate in der eingeschneiten Almhütte führt. Den Überlebenskampf zweier Menschen (darunter ein Baby) anhand der Lektüre eines Tagebuchs, ohne vermittelnde Erzählinstanz, nachzuvollziehen, ist emotional schwer auszuhalten.
Doch genau in dieser unmöglich nachzuerzählenden Geschichte zeigt sich die kunstvolle Ambivalenz von Méndez’ Prosa besonders deutlich. Denn bei aller halszuschnürenden Tragik sind diese Aufzeichnungen – immerhin ist ihr fiktiver Autor Dichter – sprachlich so weit stilisiert und ins Poetische überführt, dass man nicht anders kann, als diese schlicht schöne, traumhaft (selbst-)sichere Prosa trotz allem zu genießen. Befremdlicherweise hofft man dabei noch, trotz besseren Wissens, bis zuletzt auf ein gutes Ende – und das wiederum ist wohl derselbe archaisch-menschliche Grundaffekt, der auch alle Méndez’schen Figuren treibt.
Das Zwischenreich der dritten „Niederlage“ ist ein Gefängnis, in dem zum Tode verurteilte politische Gefangene die Zeit vor der Hinrichtung absitzen. Auch hier ist die Sprache das Instrument, das den Protagonisten, einen Musiker, am Leben erhält. Er erfindet eine Lügengeschichte über den verkommenen Sohn des Offiziers, der über ihn richten soll – zuerst aus Mitleid mit der verzweifelten Mutter, dann aus purem Überlebenswillen, bis schließlich der Ekel über die Lüge überhand nimmt.
Die Welt des Todesgefängnisses ist dabei – im Kontrast zur klaustrophobischen Einsamkeit der Berghütte – bereits ein Ort, an dem gesellschaftliche Rollen und Funktionen eine immerhin schattenhafte Rolle spielen, bis hin zur absurden Aufrechterhaltung der Parteidisziplin, die ein kommunistischer Funktionär selbst in dieser Umgebung noch durchzusetzen sucht.
In der titelgebenden Episode „Vierte Niederlage: 1942 oder Die blinden Sonnenblumen“ schließlich kehrt das Buch vollends ins öffentliche Leben zurück, zeigt jedoch vor allem, dass „normales“ Leben nach dem Bürgerkrieg nur noch Fassade sein kann. Die Rolle der katholischen Kirche, die sich auf die Seite der Faschisten geschlagen hatte, personifiziert sich in der Figur eines Geistlichen, der die Frau eines als verschollen geltenden politisch Verfolgten mit lüsternen Absichten verfolgt – nicht ahnend, dass sich der vermisste Republikaner zu Hause im Wandschrank verbirgt. Auch diese Geschichte muss tragisch enden. Doch gibt sie einen Ausblick mit einem Funken Hoffnung.
Denn zwei der drei Erzählebenen dieser Episode stehen in einem quasi dialogischen Verhältnis zueinander: Die schriftliche Beichte des Geistlichen korrespondiert mit und wird ergänzt von Erinnerungen, die der Sohn des verfolgten Paares Jahrzehnte später anstellt. Zwei sehr disparate Ich-Erzählungen sind dies zwar, die äußerlich unversöhnlich nebeneinander zu stehen scheinen. Doch auch die lakonische Parallelführung der Stimmen lässt aufmerken. Jemals miteinander zu sprechen, könnte eine allzu schmerzhafte Option sein, doch überhaupt zu sprechen über die Dinge, sich öffentlich zu erinnern, ist bereits ein großer Schritt. Die Franco-Zeit gilt in Spanien als längst noch nicht aufgearbeitet. Vielleicht ist es ja dieser Roman, der eine Epoche der öffentlichen Trauerarbeit einleitet. Wenn denn die Kunst so etwas kann.
Alberto Méndez: „Die blinden Sonnenblumen“. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Kunstmann Verlag, München 2005, 190 Seiten, 16,90 €