Leben mit Behinderung: Der Rollstuhlfahrer und das Krokodil
Marek Soltys ist Polens neuer Held. Ein Rollstuhlfahrer, der mit Videoclips Aufsehen erregt. Er war es leid, Bittbriefe zu schreiben. Seine Videos haben inzwischen Kultstatus.
WARSCHAU taz | Polen hat einen neuen Helden. Der "verrückte Rollstuhlfahrer", wie sich Marek Soltys selbst nennt, fährt seit knapp einem Jahr durch Warschaus Innenstadt und lässt sich dabei filmen. Zoobesuchern kann es passieren, dass sie von ihm gefragt werden: "Wie sieht das Krokodil denn aus?", wenn sie die Treppen vom Reptilienbecken wieder hochkommen. Im Videoclip lachen die Besucher über das absurde Problem mit den Stufen, beschreiben gestenreich das grüne Tier mit dem großen Maul und den vielen Zähnen. Dann schauen sie nach, ob es nicht doch vielleicht eine Zufahrt für Rollstuhlfahrer zum Krokodilbecken gibt.
Die Videoclips des "szalony wozkowicz", des "verrückten Rollstuhlfahrers", haben Kultstatus in ganz Polen. "Das Jammern und Klagen bringt gar nichts", sagt der 48-Jährige, der mit seiner tiefen Stimme, dem weißgrauen Bart und der stattlich wirkenden Gestalt wie ein Landesvater aussieht. Aber in die Politik will er nicht. "Verändern werden wir nur etwas, wenn alle über die Absurditäten unseres Alltags lachen können und es kinderleicht finden, uns ein bisschen zu helfen."
Schauplatz Nummer 1: die Warschauer Metro. Modern ist sie, edelstahlglänzend und schnell. Die Polen lassen so schnell nichts auf sie kommen. Nun aber steht Marek Soltys auf dem Bahnsteig. Ein Kameramann begleitet ihn. Als der rote Zug einfährt, brummelt Soltys: "Russische Wagen." Denn es gibt auch französische. Da ist das Einsteigen etwas einfacher. Dennoch drückt er auf den Regler "Vorwärts".
Sein schwerer Elektrorollstuhl rollt auf die breite Tür im ersten Wagen zu. Die Passagiere machen Platz. Neugierig schauen sie zu. Zwischen Bahnsteigkante und Wagen klafft eine Lücke. Zudem ist der Zugboden rund zwölf Zentimeter höher als der Bahnsteig. Obwohl sich Soltys leicht zurückbeugt, um das Gewicht nach hinten zu verlagern, stoppen die kleinen Räder an der Türschwelle. Soltys legt den Rückwärtsgang ein, versucht es noch einmal.
Er gibt mehr Gas, und sein Rollstuhl rast geradezu halsbrecherisch auf die Tür zu. Doch die Barriere ist unüberwindbar. Die Räder prallen an der Türschwelle ab, drehen sich, geraten in den Spalt zum Bahnsteig. Der Rollstuhl kippt wie in Zeitlupe vornüber, Marek stürzt auf den Boden. Entsetzte Passagiere richten den Rollstuhl auf und hieven den leicht verletzten Mann wieder hinein.
Marek Soltys ist eine Ausnahme. Rund 3,5 Millionen behinderte Menschen gibt es in Polen, dennoch sind Rollstuhlfahrer, Blinde, Taube, Stumme oder geistig Behinderte öffentlich kaum sichtbar. "Sie sitzen zu Hause", sagt Soltys. "Die wenigsten nehmen am Leben teil. Im Grunde warten sie nur auf den Tod."
Zwar verbietet Polens Verfassung die Diskriminierung behinderter Menschen, doch die Realität sieht anders aus. Barrieren über Barrieren machen nicht nur in Warschau eine Stadtrundfahrt für Rollstuhlfahrer fast unmöglich: Treppen, hohe Bürgersteige, Stufen vor Geschäften und Restaurants, zu schmale Türen, kaputte oder stinkende Aufzüge.
Nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union sind immerhin auf einigen Bahnhöfen behindertengerechte Toiletten entstanden. Funktionstüchtig sind allerdings die wenigsten. So haben Architekten am Bahnhof Warschau-Stadtmitte zwar ein Vorzeigepissoir gebaut, dabei allerdings vergessen, Aufzüge oder Rampen einzuplanen. Ringsum gibt es nur steile Treppen. So funktioniert die Behindertentoilette nur in der Statistik.
"Früher habe ich Briefe geschrieben", erzählt Soltys und wärmt sich in einem Warschauer Bistro die Hände an einer großen Kaffeetasse. Draußen liegt Schnee. Es ist sieben Grad unter null. "Zwei, drei Monate später bekam ich dann eine Antwort auf meine Bitten. Aber es tat sich nichts. Gar nichts. Über Jahre hinweg." Er nimmt einen Schluck. "Dann habe ich den ersten Videoclip gedreht, weil ich dachte, dass ich den Metroleuten zeigen muss, wo das Problem liegt." Der Unfall sei nicht eingeplant gewesen.
Aber auf YouTube sorgte der kleine Film dann für Furore." Marek lacht gutmütig. "Zigtausende Polen haben den angeklickt. Einige setzten sich mit mir in Verbindung, andere appellierten an die Metrodirektion, endlich mobile Rampen anzuschaffen. Und so kam die Lawine ins Rollen."
Offiziellen Zahlen zufolge gibt es in Polen rund 3,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Behindertenorganisationen geben mit rund 5,5 Millionen eine wesentliche höhere Zahl an.
Ombudschaft: Es gibt in der Verwaltung auf allen Ebenen Ansprechpartner für behinderte Menschen. Doch sind diese meist gesund und kennen deren Alltagsprobleme nicht aus eigener Erfahrung. So werden bis heute zu hohe Bürgersteige gebaut, Schulen und Universitäten ohne Rampen, unzugängliche Bahnhöfe. Die absurd-komischen Videoaktionen des "verrückten Rollstuhlfahrers" verändern das Bewusstsein der Polen nachhaltiger als alle gut gemeinten Gesetze zusammen. (gl)
Schauplatz Nummer 2: der Warschauer Zentralbahnhof. Wieder ist der Kameramann dabei. Soltys ist mit dem Zug angekommen und fährt nun mit seinem Elektrorollstuhl die labyrinthartigen Gänge entlang. An seiner Seite wie immer der Labrador Spike. Der Hund ist Soltys Assistent und Freund zugleich. Es ist dämmrig in den beiden Untergeschossen. Soltys sieht nur mit einem Auge. Hinweisschilder für Rollstuhlfahrer fehlen. Wo ist der Ausgang? Zwar fehlt es nicht an Aufgängen zu Straßenbahn- und Bushaltestellen, doch nach oben führen nur steile Treppen. Soltys macht kehrt, fährt kilometerlange Gänge entlang. Schließlich steht er vor dem Aufgang zur Haupthalle des Warschauer Zentralbahnhofs.
Dort gibt es gleich zwei Treppenaufzüge für Rollstuhlfahrer. Erleichtert drückt Soltys auf den Rufknopf für das Personal. Doch dann sieht er den Warnhinweis: Höchstgewicht 190 Kilogramm. Allein Mareks Elektrorollstuhl bringt knapp 150 Kilo auf die Waage, und er selbst wiegt doch etwas mehr als 30 Kilo. Stoisch macht er wieder kehrt. Spike trottet neben ihm her. Endlich finden die beiden einen Aufzug: Das gegenüberliegende Einkaufszentrum hat auch an die Rollstuhlfahrer unter den Kunden und Reisenden gedacht.
Inzwischen ist Marek Soltys eine bekannte Persönlichkeit. Hin und wieder stößt er auch auf Ablehnung. So beschied ihn ein Herrenausstatter auf der Flaniermeile "Neue Welt" barsch, dass sich Behinderte die teuren Anzüge ohnehin nicht leisten und andere Kunden sich durch sie belästigt fühlen könnten. Die Stufe vor dem Geschäft bleibe daher. Dennoch bestärken Marek Soltys die überwiegend positiven Reaktionen: "Ich bin inzwischen ein Sympathieträger.
Plötzlich ist es trendy, etwas für Menschen mit Behinderungen zu tun. Tatsächlich sind schon etliche Barrieren verschwunden. Sogar in der Metro!" Soltys freut sich. Als Dolmetscher und Übersetzer aus dem Englischen und Russischen stand er bisher nicht im Rampenlicht. "Ich genieße die Bekanntheit, aber ich nutze sie auch. Als ,Gesicht einer Aktion kann ich sehr viel verändern."
Immer mehr Menschen schließen sich seiner Stiftung "Freundeskreis des verrückten Rollstuhlfahrers" an. "Wir sind eine große gesellschaftliche Gruppe", sagt Marek. "Und je älter die Gesellschaft wird, umso mehr Rollstuhlfahrer wird es geben." Zudem könne es jeden treffen. Bis zu seinem 17. Lebensjahr ist er auch gesund gewesen, hat Sport getrieben und keinen Gedanken daran verschwendet, eines Tages vielleicht nicht mehr laufen zu können. "Ein banaler Unfall, eine Narkose, und ich war gelähmt. Die Ärzte machten mir keine Hoffnung. Mich erwartete Bettlägerigkeit bis zum Ende meiner Tage", berichtet Soltys.
Zunächst habe er resigniert, die Schulausbildung abgebrochen, sich gehen gelassen, bis er sich eines Tages aufbäumte: "Ich will wieder am Leben teilhaben. Das darf nicht das Ende sein. Das Unmögliche zu versuchen ist verrückt", grinst er. "Seitdem mache ich als ,verrückter Rollstuhlfahrer' die Straßen Warschaus unsicher."
Schauplatz Nummer 3: der Hügel Cwila im Warschauer Stadtteil Ursynow. Junge Leute liefern sich eine Schneeballschlacht. Marek Soltys sitzt auf einem großen Schlitten und rast laut "aaaa" und "oooo" schreiend vom immerhin 108 Meter hohen "Berg" ins Tal. Labrador Spike rennt ein Stück mit, überschlägt sich, rappelt sich wieder auf und schaut zum Herrchen, als wollte er fragen: "Noch mal hoch?"
Marek Soltys wohnt nicht weit entfernt. Die Wohnung, die er mit einer "sehr attraktiven Frau" teilt, wie er sagt, ist behindertengerecht umgebaut. Dennoch fährt er möglichst oft weg. "Reisen ist mein Hobby", sagt er. "Angeblich ist das ja für Rollstuhlfahrer so schwierig. Aber ich sehe das als Herausforderung. Eine meiner schönsten Erinnerungen ist eine Wanderreise längs der Fjorde in Norwegen." Im nächsten Sommer geht es in die Ukraine. "Je wilder, desto besser", sagt er.
Einen Videoclip von der Schlittenfahrt hat er ins Internet gestellt. "Uns macht das Leben Spaß. Auch wenn wir im Rollstuhl sitzen", sagt Marek und trinkt den letzten Schluck heißen Kaffees. "Viele denken, dass wir Trauerklöße sind, die nur zu Hause sitzen wollen. Und wenn wir dann plötzlich vor dem Theater stehen, dem Schwimmbad oder dem Restaurant, machen alle große Augen." Das soll sich ändern.
Inzwischen gebe es ähnliche Initiativen wie die seiner Stiftung in Danzig, Krakau, Lodz und Breslau. "Irgendwann werden wir ganz normal dazugehören", ist Soltys überzeugt. "Denn was unterscheidet uns groß? Wir bewegen uns anders, das ist alles: die einen auf zwei Beinen, die anderen mit einem fahrbaren Untersatz." Er lacht gut gelaunt, stellt die Tasse ab, zurrt den Schal fest und drückt auf den kleinen Regler: "Vorwärts".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!