: Leben im Halbdunkel
Briefe, die uns erst jetzt erreichen, geschrieben vor über sechzig Jahren. Von einer jungen Jüdin aus Amsterdam
von MIRJAM BOLLE
Amsterdam, den 28. März 1943. Heute will ich mal mit etwas Gutem beginnen. Das Einwohnermeldeamt ist heute Nacht abgebrannt. Wie du weißt, müssen Holländer zum Arbeitseinsatz nach Deutschland. Die Aufforderungen werden natürlich mit Hilfe eines Kartensystems des Einwohnermeldeamts erstellt. Das Amt wird bewacht und ist heute Nacht vollkommen abgebrannt. Obwohl wir doch ganz in der Nähe wohnen, haben wir von alledem nichts mitbekommen. Ziemlich verrückt.
Es heißt, gegen elf – es war gestern stockdunkel – sei ein deutsches Auto vorgefahren, in dem Männer in Polizeiuniform gesessen hätten. Sie sollen ins Gebäude eingedrungen sein, den Wachen eine Spritze gegeben, Pflaster auf den Mund geklebt und sie in den Garten von Artis gelegt haben. Dann sollen sie die Papiere aus den Schränken geholt, mit Petroleum übergossen, das Ganze angezündet (unter anderem mit Zeitzündern) und sich dann aus dem Staub gemacht haben. Anscheinend war es ein Riesenfeuer. Es gab kein anderes Thema heute. Ob diese Geschichte tatsächlich stimmt – es hört sich ja an, als wären wir in Chicago –, weiß ich nicht. Auf alle Fälle ist es Sabotage, und ich bin gespannt, welche Strafe hierauf folgen wird. Wenn sie nur keine Geiseln erschießen.
Die letzte Strafmaßnahme ist noch immer in Kraft, das heißt, wir dürfen nur bis neun Uhr auf die Straße – die Christen wohlgemerkt und die Juden, die eine Ausgangserlaubnis für den Abend haben –, aber das ist nicht so schlimm. Die Middenlaan und Kerklaan waren ganz gesperrt. Und heute, Sonntag, gab es die reinste Pilgerfahrt. An der Muidergracht wimmelte es nur so vor Leuten. Seit Jahren sind dort nicht so viele Menschen gewesen. Ein richtiges Volksfest, unter anderem sogar mit einem Blumenstand. Nur glaube ich nicht, dass es viel bringen wird, denn niemand weiß, ob die richtigen Papiere verbrannt sind – ich glaube allerdings schon –; in anderen Gebäuden gibt es jedoch noch Abschriften, was natürlich schlecht ist. Aber vielleicht werden sie die auch noch anzünden, obwohl die Deutschen jetzt sicher besonders gut aufpassen werden.
Dann noch etwas Schönes. Die Ärzte mussten der so genannten Ärztekammer beitreten, so, wie es auch eine Kulturkammer gibt, bei der Schauspieler Mitglied sein müssen, usw. Sie alle ste hen unter Aufsicht der NSB [„Nationaal-Socialistische Beweging“; Anm. d. Red.]. Die Ärzte haben nun den Beitritt verweigert und dadurch ihren Titel verloren. Daraufhin haben sie Pflaster oder Klebeband über ihren Praxisschildern angebracht. Neben uns z. B. wohnt ein Arzt. Auf seinem Schild steht: DR. J. WESHOF, ARZT. Jetzt klebt über „DR.“ und „ARZT“ ein Pflaster. Fast alle haben das gemacht, sodass es theoretisch fast keine „Ärzte“ mehr gibt, sondern nur noch Quacksalber. Sie dürfen natürlich keine Rezepte schreiben, keine Totenscheine ausstellen usw. Das Schlimmste ist jedoch, dass die meisten von ihnen nicht zu Hause schlafen, weil sie Angst haben, aufgegriffen zu werden, und wenn jemand nun nachts einen Arzt braucht, z. B. für eine Geburt, dann ist das schlimm. Wir sind sehr gespannt, wie das weitergehen wird, denn so ganz ohne Ärzte wird es ja doch nicht gehen. Aber ihr Verhalten ist schon bewundernswert.
Noch ein paar Beispiele, an denen du sehen kannst, wie antideutsch die Gesinnung der Niederländer noch immer ist, was sich vor allem durch den erzwungenen Arbeitsdienst in Deutschland noch verstärkt hat. Es gibt hier Propagandaplakate, die eine tote Frau inmitten von Trümmern zeigen, und ein kleines Kind fragt: „Mutter, ist das nun die zweite Front?“ Darüber klebt ein Streifen mit den Worten: „Nein, Dummchen, das ist Rotterdam.“ Rotterdam wurde nämlich im Mai 1940 schwer bombardiert. Später haben die Deutschen einen Film über eine von Engländern zerbombte Stadt drehen lassen. Das war Rotterdam, wohlgemerkt.
Das ist aber auch schon alles Schöne, was ich dir erzählen kann. Der Rest ist wieder eine Fortsetzung des Elends. Ich habe dir erzählt, dass Lea und Marc gesucht werden. Man will offensichtlich nicht glauben, dass es für das Gold und Silber, das in ihrer Wohnung gefunden wurde, eine Genehmigung gab und Onkel Nathan sein Geschäft nicht aufzulösen brauchte. Jetzt werden sie des Schwarzhandels bezichtigt. Ich war bei Sluzker, und der meinte, wir dürften sie nicht in unserem Haus behalten, weil das auch für uns zu gefährlich sei. Aber es ist schon ein Elend, dass wir, die einzigen Verwandten, die sie noch haben, ihnen nun nicht einmal unser Haus anbieten können. Es ist so schwierig, einen Unterschlupf zu finden. Und Lea sieht auch noch so jüdisch aus. Sie hat mit verschiedenen Leuten über einen Unterschlupf verhandelt. Ich werde dir später davon berichten, es aufzuschreiben ist mir zu gefährlich, da man dann auch andere Leute mit hineinzieht.
Stell dir vor, wie man sich fühlen muss, wenn die Eltern deportiert wurden und man gleich darauf zum Friseur muss, um sich die Haare färben zu lassen, und danach eine Brille aussuchen, alles nur, um sein Aussehen zu verändern, was dann doch nichts nützt.
Abends schläft Lea nun nicht mehr bei uns. Marc auch nicht, doch er hatte sofort einen Unterschlupf. Lea kannte den Weg zum Unterschlupf allerdings nicht, und ich sollte sie begleiten. Wir taten so, als würden wir uns nicht kennen, und als wir nicht mehr weiterwussten, fragte ich nach dem Weg, bastelte dann ein wenig an meinem Rad herum, und wenn Lea dann in die Straße kam, fuhr ich bis zur nächsten Ecke weiter. Wir haben dabei sogar noch gelacht. Irgendwann winkte ich Lea, sie solle weitergehen, ich wollte ihr dann weiter den Weg zeigen. Es dauerte länger, als wir gedacht hatten, sodass sie schon die Straße entlanggegangen, rechts abgebogen und wieder zurückgekommen war. Sie kam mir entgegen, als ich gerade in die Straße einbog. Ich blieb an der Ecke stehen und fragte einen Passanten nach dem Weg. Am nächsten Morgen meinte Lea, sie habe sich totgelacht, weil sie gedacht habe, ich wolle sie nach dem Weg fragen.
Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie unheimlich das Ganze war, im Halbdunkel, in einer völlig unbekannten Gegend, im Bewusstsein, dass in dieser Straße wahrscheinlich Leute von der NSB wohnen, die sie verraten würden. Es war so einsam und so elend, und ich hatte solches Mitleid mit ihr, weil sie so plötzlich ganz allein auf der Welt war. Sie hat nun definitiv einen Unterschlupf und ist nicht mehr da. Sie hat nichts mitgenommen, denn es war gar nicht ihre Absicht, gleich ganz wegzubleiben. Nun werden wir ihr diese Woche ihre Sachen an einen vereinbarten Ort schicken, denn wir wissen nicht, wo sie ist. Stell dir nur vor, Leo, so plötzlich die vertraute Umgebung verlassen zu müssen, die Menschen, die einen lieben, auf einmal bei wildfremden Leuten sein, kein koscheres Essen mehr, keinen Kontakt mehr zu uns oder zu Marc, sodass sie nicht weiß, ob wir geholt wurden oder noch da sind.
Inzwischen wurde auch Tante Ré geholt, und wir konnten nichts für sie tun. Tante Phine hat eine gute Wohnung bekommen. Zumindest das ist mir gelungen. In Vaters Fall hat sich noch nichts bewegt. Ich fürchte, dass sich da auch nicht mehr viel machen lässt. Vielleicht kann ich ihn noch als Sonderfall durchbringen, aber das mache ich nur ungern, weil mir die ganze Vetternwirtschaft [beim „Jüdischen Rat“, für den Mirjam Bolle arbeitete; siehe Randspalte] zuwider ist. Aber wenn ich daran denke, dass Vater und Mutter sonst wegmüssten, habe ich nur noch einen Gedanken: alles tun – ganz gleich, ob es rechtens ist oder nicht –, um sie so lange wie irgend möglich hier zu halten.
Wir hatten diese Woche erneut reines Glück. Am Donnerstag stand tagsüber die Polizei vor unserer Tür, auf der Suche nach Ungesperrten. Mutter machte auf, und der Polizist fragte, ob alle Familienmitglieder gesperrt seien. Sie war so fassungslos, dass sie Ja sagte, was überhaupt nicht stimmte, da Großmutter nicht gesperrt ist. Der Kerl war in Ordnung, denn er verzichtete auf eine Hausdurchsuchung und ging gleich weiter. Eine Putzfrau, die ein paar Häuser weiter arbeitete, dort aber nicht wohnt, musste ihre Adresse angeben. Sie wird jetzt geholt. Viele Menschen mussten sich in einem bestimmten Haus einfinden und wurden mittags von dort abtransportiert. Du siehst, welches Glück wir hatten. Und dann gleich doppelt. Beim Synagogendiener Deen nämlich, der auch verschwiegen hatte, dass noch Ungesperrte bei ihm wohnten, wurde das Haus durchsucht. Man fand die Ungesperrten und deportierte ihn als Straffälligen. Das hätte uns auch passieren können. Ich habe Mutter nun ausdrücklich gesagt, sie müsse die Wahrheit sagen. Das Problem ist, dass sie sofort die Fassung verliert und dann doch etwas Falsches sagt.
Noch ein Letztes. Die Kinder, die zur Schouwburg [Sammelstelle für Juden in einem ehemaligen Theater; Anm. d. Red.] gebracht wurden, dürfen nachts in einem Privathaus in der Parklaan schlafen. Tagsüber dürfen sie unter Aufsicht von Krankenschwestern ins Freie. Es ist ein so trauriger Anblick, zu sehen, wie all die armen Kinder, die man abtransportieren wird, da zusammen herumlaufen. All diese traurigen Dinge machen einen so kaputt. Wenn man z. B. an Marc denkt, der noch keinen festen Unterschlupf gefunden hat und herumirrt. Bei uns ist es sowohl für uns als auch für ihn viel zu gefährlich. Und so schläft er in irgendeiner stockdunklen Scheune und weiß tagsüber nicht, was er machen soll.
Leo, ich beschließe den Brief mal wieder. Immer nehme ich mir vor, dir alles ganz genau zu beschreiben, aber es passiert so unbeschreiblich viel, dass ich es nur in groben Zügen erzählen kann und nicht einmal mehr Zeit für zärtliche Worte bleibt. Ich gehe jetzt zu Bett, denn die Uhr wird heute Nacht eine Stunde vorgestellt. Sonst habe ich eine Stunde Schlaf zu wenig, und die brauche ich. Die Spannung, in der wir leben, zehrt einen aus. Abends bin ich zu nichts mehr fähig.
MIRJAM BOLLE geborene Levie, 88, lebt in Israel. Ihr Buch „Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen“, aus dem wir einen gekürzten Auszug drucken, erscheint bei Eichborn (300 Seiten, 19,90 Euro). Eine Lesung aus Mirjam Bolles Briefen findet am Mittwoch, den 8. März ab 20 Uhr im Veranstaltungsraum des Berliner Anne Frank Zentrums, Rosenthaler Str. 39, statt. Es liest Martina Gedeck. An dem anschließenden Gespräch wird auch Frau Bolle teilnehmen