: Leben auf einem Giftberg
Zwar wird der verseuchte Boden der Dortmunder Eigenheimsiedlung Dorstfeld Süd saniert, aber die Bewohner müssen mit den aufgewirbelten Giftstäuben leben / Kinder sind besonders gefährdet ■ Von Süster Strubelt
Bochum (taz) - Für den achtjährigen Mattes ist jeder Bagger „ein Ding, das nach Gift gräbt“. Schon die Welt der Kinder in der Dortmunder Eigenheimsiedlung Dorstfeld Süd ist von der inzwischen zwei Jahre dauernden Sanierung geprägt - vom Bild der Arbeiter mit Gasmasken, die bis zu acht Meter tief graben und das Erdreich austauschen. Während Mattes aber nicht einmal im Garten des Bungalows darf, spielen die Nachbarskinder fröhlich in der Baumasche, die nach wissenschaftlichen Untersuchungen große Mengen an Schwermetallen und den krebserzeugenden aromatischen Kohlenwasserstoffen enthält. Fünf Jahre Dortmunder Sanierungspolitik und sich widersprechende Gutachten desselben Mediziners haben es geschafft, die Dorstfelder Siedler zu spalten und bei den meisten Anwohnern Hilflosigkeit, Verwirrung und folglich Verdrängung der Gefahren zu erzeugen.
1985: „Nicht zumutbare Gesundheitsbelastung“
1985 kam das Düsseldorfer Institut für Umwelthygiene in einem Gutachten zu dem Ergebnis, daß die verseuchte Erde des ehemaligen Zechengeländes für die Bewohner von Dorstfeld Süd eine „nicht zumutbare Gesundheitsbelastung“ darstelle. Gutachter Prof. Hans-Werner Schlipköter befürchtete eine bis zu zwanzigfache Erhöhung des Krebsrisikos durch polyzyklische Kohlenwasserstoffe bei Kleinkindern, die draußen spielen, dabei Erde in den Mund stecken und Hautkontakt mit dem Boden haben. Hinzu komme, so das Gutachten, die Gefährdung durch Blei, Cadmium, Quecksilber und Arsen im Erdreich. In der Luft wurden erhöhte Konzentrationen aromatischer Kohlenwasserstoffe gemessen, wobei Schlipköter besonders Benzol „wegen seines kanzerogenen (krebserzeugenden) Potentials“ bedeutsam schien.
Die Stadt Dortmund entschloß sich daraufhin, das Kokereigelände zu sanieren, das sie 1965 (obwohl sie, wie sich später herausstellte, von der Verseuchung wußte) gekauft und an sozialschwache oder kinderreiche Familien zum Eigenheimbau weiterverkauft hatte. Einem Teil der Anwohner aus dem sogenannten Kerngebiet - kaufte sie die Häuser zum vollen Preis ab und begann 1987 mit Bodenaustauschmaßnahmen. Obwohl sich bald herausstellte, daß auch das „Randgebiet“ verseucht war, sollten die übrigen Siedler den Erdaushub um sich herum in ihren Häusern ertragen. Ihnen bot die Stadtverwaltung lediglich den Verkehrswert für ihre Eigenheime und keine Entschädigung für die gestiegenen Bodenpreise. Die Anwohner rechneten sich aus, daß sie beim Neubau eines Hauses an anderer Stelle bis zu 40 Prozent würden zuzahlen müssen, für die meist ohnehin hochverschuldeten Familien ein unvorstellbarer Gedanke.
Ein Teil der Siedler zog daraufhin vor Gericht, wo die Stadt Dortmund in erster und zweiter Instanz wegen der „grobfahrlässigen“ Aufstellung des Bebauungsplans und „Amtspflichtverletzung“ zum vollen Schadenersatz an die Siedler verurteilt wurde. Sie zahlte trotzdem nicht. Obwohl Anfang 1988 sowohl das Bundesbauministerium als auch das Umweltministerium Gelder versprachen, beschloß der Rat der SPD-regierten Stadt gegen das Urteil Revision beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe einzulegen. Angesichts dieses Nervenkrieges wurde die Mehrheit der Anwohner mürbe, 100 Familien entschlossen sich, das Angebot der Stadt von 100.000 Mark Entschädigung anzunehmen - und zu bleiben.
1988: Keine gesundheitliche „Gefährdung“
Nicht zu ihrem Schaden, bekundete nun ein neues Gutachten, das Prof. Schlipköter Ende 1988 zu den Sanierungsauswirkungen erstellte. „Von einer gesundheitlichen Gefährdung der Bevölkerung kann aufgrund der medizinischen Untersuchungsbefunde nicht ausgegangen werden“, erklärte der Toxikologe beruhigend. Zwar sei während der Erdaustauscharbeiten erwartungsgemäß noch mehr Gift aufgewirbelt und die Benzolkonzentration in der Luft erhöht worden. Aber die darauf erfolgte Reaktion der untersuchten Personen durch Verminderung der roten Blutkörperchen sei, so das Gutachten, „reversibel“ Das Krebsrisiko schätzte Schlipköter deutlich geringer ein als noch vor drei Jahren: „Neue experimentelle Untersuchungen“ hätten ergeben, daß Kleinkinder weniger Erde essen, als zunächst vermutet. In dem diesmal sehr kurzen Abschnitt „Krebsrisiko“ wird lediglich der Einfluß von Benzol auf Leukämie quantifiziert, alle anderen Gifte und Krebs -Erkrankungen, sowie die im ersten Gutachten ausführlich dargestellten möglichen Interaktionen verschiedener Giftstoffe und die Forschungslücken bleiben unerwähnt.
Wieviele Krebsfälle es in Dorstfeld Süd nach acht Jahren Leben auf dem „Giftberg“ tatsächlich gegeben hat, ist bisher von keiner Seite wissenschaftlich untersucht worden. Nur die Dorstfelder Solidargemeinschaft, ein Zusammenschluß von 25 Siedlern, die immer noch wegziehen wollen, hat sich um eine Erfassung der aufgetretenen Erkrankungen bemüht. Durch Gespräche mit den Nachbarn erfuhren sie von 22 Krebsfällen, darunter drei Kinder, die an dem äußerst seltenen Lymphdrüsenkrebs „Morbus Hodgkin“ leiden oder schon gestorben sind. Außerdem sind nach ihren Beobachtungen Lebererkrankungen (bis hin zur Hepatitis), Atemwegsbeschwerden, Magen-Darmstörungen und Allergien in Dorstfeld Süd an der Tagesordnung. Beim jetzigen Sanierungstempo vermutet die Solidargemeinschaft, daß die Anwohner noch mindestens zwei Jahre unter dem Lärm und den aufgewirbelten Giften der Bagger leiden werden. Die Lastwagen, so berichten die Siedler, werden abgeduscht, bevor sie die Giftsiedlung verlassen und wieder öffentliche Straßen befahren.
Süster Strubelt
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