: Leben auf dem Mond
■ Bausenator Nagel schießt auf den Koalitionstanker: Die Große Koalition komme daher als ein "Wettlauf der Populisten"
Berlins Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) hat wieder mal eine Tretmine gelegt. Diesmal in der heutigen Ausgabe des Nachrichtenmagazins Focus. Berlin muß sparen, sagte er, ganz im Vertrauen, dem Blatt, denn die Lage wäre „prekär“ und immer prekärer. „Schmerzhafte Einschnitte“ seien deshalb dringend notwendig. Dies müßten die Politiker, allen voran seine eigene Fraktion („Die leben auf dem Mond“) endlich einmal einsehen. Bisher habe sich die Große Koalition als „Wettlauf der Populisten erwiesen“, meinte er, und selbst Regierungschef Eberhard Diepgen pflege zu häufig „Bedenken“. Schließlich sei 1995 endgültig Subventionsschluß, und nur 38 Prozent der eigenen Ausgaben würden durch Steuereinnahmen finanziert. In Hamburg seien es 70 Prozent.
Den Schuß auf den Koalitionstanker milderte Wolfgang Nagel mit Reparaturvorschlägen ab. Es gebe drei Bereiche, in denen kräftig gespart werden könnte. Zum Beispiel im Ostteil der Stadt. Dort gebe es im Vergleich zur Verwaltung im Westteil viel zu viele Beschäftigte. 10.000 bis 20.000 Stellen könnten mit „Wegfall“-Vermerken versehen, also nach der Pensionierung der Stelleninhaber nicht mehr besetzt werden. „Weiter müssen wir uns fragen“, fragte der Bausenator, „ob wir uns auf Dauer drei Universitätskliniken leisten können.“ Vermutlich hat Nagel dabei den teuren Zuschußbetrieb Charité im Auge, schließlich liegt sie auf wertvollstem Dienstleistungs-Grund und Boden. Ein Unding sei es auch, meinte Nagel, daß beste innerstädtische Lagen durch riesige Kleingartenflächen „blockiert“ werden. Auch in seinem eigenen Ressort hat der Bausenator Einsparungsmöglichkeiten entdeckt. Die Zahl von 20.000 öffentlich geförderten Wohnungen pro Jahr könne auf 18.000 gedrückt werden.
Nagel glaubt kaum, daß die Große Koalition mutig genug sein wird, die Sparmaßnahmen durchzusetzen. „Wir haben drei Jahre vertan“, findet er. Und Nagel wäre nicht Nagel, wenn er nicht darauf hinweisen würde, daß außer ihm auch in seinen eigenen Reihen fast niemand den Durchblick hat. Eine Sicht, die die Finanzverwaltung nicht teilt.
Die hat nämlich vor kurzem in einem internen Papier Vorschläge für Milliardeneinsparungen gemacht. Längerfristig könnten 40.000 Stellen im öffentlichen Dienst, auch in den Bereichen Bildung, Polizei, Kitas, gestrichen werden. Außerdem könnten die Mieten erhöht und die Wohnungsbauförderung verringert werden. Auch die Schließung der Komischen Oper dürfe kein Tabu sein. Laut Finanzverwaltung entstehe in Berlin 1995 ein Defizit von vier Milliarden, ab 1996 jährlich von fünf Milliarden. Anita Kugler
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