: Leben auf Sauftour
Der Österreicher Xaver Bayer beschreibt einen Twentysomething, dem seine eigene Verzweiflung noch gar nicht bewusst ist
Das eigentliche Vergnügen an der Arbeit des Schriftstellers, so erklärte es einmal der amerikanische Autor Walker Percy, seien die Kontraste zwischen dem Schreiben als Möglichkeit, das Leben zu ordnen, und der darin berichteten alltäglichen Unordnung. Solche Kontraste sind auch im Werk des 29-jährigen Xaver Bayer sichtbar. In seinem dritten Roman, „Weiter“, lässt Bayer einen namenlosen Ich-Erzähler allmählich den Bezug zur Wirklichkeit verlieren. Der österreichische Autor beschreibt in nüchternen Sätzen, emotionslos und klar, wie das Leben dieses Twentysomething aus den Fugen gerät. Am Schluss liegt er am Boden einer Bankfiliale, deren Bankomat er blindlings attackiert hat. Aber es ist nicht die große Geschichte vom Scheitern, die hier wiedergegeben wird. Bayer schildert das Geschehen ganz beiläufig, drastisch, aber nicht ohne Humor. Als der Protagonist einmal an einem kleinen Mädchen vorbeiläuft, das eine Melodie pfeift, fühlt er sich unangenehm an den Spruch erinnert: „Mädchen, die pfeifen und Hähne, die krähen, soll man beizeiten den Hals umdrehen.“ Entschuldigend lächelt der Ich-Erzähler das Mädchen an, das daraufhin sofort die Flucht ergreift.
Bayers Protagonist mag unbeholfen sein, ein Antiheld ist er jedoch nicht. Der Ich-Erzähler verfasst Rezensionen für ein Computerspielemagazin und nimmt als Fachjournalist an Game-Conventions teil. Irgendwann merkt er, dass er der Wirklichkeit auf dem Bildschirm zwar immer um einen Schritt voraus ist, in der sozialen Kompetenz, die er im Alltag zum Überleben braucht, aber hinterherhinkt. Das mechanische Weiterklicken beim Spielen scheint sein Denkvermögen zu schärfen, aber seine Kommunikationsfähigkeit verkümmert. Menschliche Wärme findet er unangenehm. Ob seine zunehmend irrationalen Aktionen daher rühren, der unmotivierte Diebstahl eines Faustkeils aus einem Museum der Urgeschichte zum Beispiel oder der Erwerb eines Spielzeughubschraubers, lässt Bayer offen. Kulturpessimismus ist ihm fremd. Man hat Bayer das Etikett „Antipop“ verpasst, wohl darum, weil seine Situationsbeschreibungen nicht von cool oder uncool handeln. Wenn es bei ihm um den Verlust von Sehnsüchten oder um Weltekel geht, stellt er sie mit Klarheit dar. „Ich habe mit einem Mal Hunger verspürt und die Lust, eine Suppe zu essen, eigentlich ist es aber mehr die Tröstlichkeit einer heißen Suppe gewesen, nach der ich Verlangen gehabt habe.“ Mit den Darstellungsformen der Popkultur ist der in Wien lebende Schriftsteller vertraut. In einem Literaturblog hat er sich einmal gewünscht, im „abgeschnittenen Infinitiv“ der Sprechblasen von Comics kommunizieren zu können, weil diese Redeform die „eheste Gegenwart“ sei.
Der Ich-Erzähler in „Weiter“ hat ein Faible für die seltsame Folkmusik von Will Oldham. Als er ein Konzert des amerikanischen Songwriters besucht, lassen ihn die Darbietungen aber kalt. Was ihn in der Vergangenheit an den Songs entzückte, ist im Moment der Wiederholung im Konzert bereits verloren. Wie Bayer verarbeitet auch Oldham Verlustängste und Verzweiflung in seinen Songs zu virtuosen Dramoletten. Die Verzweiflung von Bayers Ich-Erzähler ist sich ihrer dagegen noch gar nicht richtig bewusst. „Weiter“ gipfelt in einer Drogen- und Sauftour im tschechischen Brno, dorthin reist der Ich-Erzähler, weil er ein neues Computerspiel zusammen mit seinem Erfinder begutachten soll. Stattdessen zieht er mit der Schwester des Spieleerfinders und einigen ihrer Bekannten ziellos durch die Nacht. An einer anderen Stelle fragt der Ich-Erzähler, ob sich das Wort „Zeitgeschichte“ auch in dem Sinn verstehen lasse, dass Zeit übereinandergeschichtet wird. Um das Gewicht geschichteter Zeit auszuhalten, würden selbst Comic-Superhelden die Mundwinkel vor Weltekel nach unten hängen. JULIAN WEBER
Xaver Bayer: „Weiter“. Jung & Jung, Salzburg 2006, 157 Seiten, 18 Euro