: Le terroir, c’est moi!
Moselwein aus Franken – muss das sein? Was es bedeutet, wenn ein von der Mosel geprägter Winzer die Weine des Würzburger Steins, des berühmtesten Weinbergs Frankens, verantwortet
VON STEPHAN REINHARDT
Wer je Geschmack und Gefüge eines Moselweins mit dem eines Frankenweins verglichen hat, weiß, wie unterscheidbar nicht nur die jeweiligen Weine sind. Man ahnt vielleicht auch, wie unterschiedlich die jeweiligen Landschaften und wie verschieden die kulturellen Prägungen und Mentalitäten derer sein müssen, die sie erzeugen, trinken und mit diesen Weinen leben. Wein ist mehr als nur das flüssige Abbild seiner Herkunft. Er ist vor allem das Ergebnis der kreativen und schöpferischen Auseinandersetzung des Winzers mit seiner Umgebung.
Der Winzer ist nicht ihr Handlanger oder Mediator, sondern Koautor der gezähmten wie auch der freien Natur. Seine persönliche Vorstellungs- und Erfahrungswelt fließt in den Wein ebenso mit ein wie die Exposition und Inklination des Weinbergs und dessen Bodenbeschaffenheit, die Art der Rebpflanze und ihre über Generationen erfolgte Adaption an die jeweiligen Lebens- und Wachstumsbedingungen oder der Vegetationsverlauf der Jahrgänge.
Dabei sind Wille und Vorstellung des Winzers maßgeblich von der Natur, Kulturgeschichte und Weinästhetik seiner Heimat geprägt. Mit deren Weinen wuchs er auf, und er vergisst sie nicht sein Leben lang. Jeder Wein in seinem Glas steht in Beziehung zum Wein seiner Jugend, wo immer er auch herkam, wer immer ihn erzeugt hat. Und egal wo auf der Welt der seiner Heimat geografisch entrückte Winzer Wein erzeugt: Ein Stück weit ist der Wein seiner Heimat immer auch in den Weinen zugegen, die er in der Fremde erzeugt – als Zitat, als Reminiszenz, als Sehnsucht, als Heimweh.
Wein ist nicht immer nur Ausdruck einer einzigen Kulturgeschichte, sondern – da Menschen ihn erschaffen – das synergetische Produkt mehrerer Kulturgeschichten. Ein solcher Multikultitrunk kann zu Überraschungen führen, da er vermeintlich bekannte, für unveränderlich gehaltene Geschmacksbilder und Charaktereigenschaften variieren kann.
Indes, wo Grenzen verwischen oder sich auflösen, droht, im Leben wie beim Wein, Orientierungslosigkeit. Umso mehr wächst das Bedürfnis, sich von anderen abzugrenzen und sich seiner eigenen geschichtlichen und kulturellen Identität zu vergewissern. Herkunft ist alles, beim nach Geborgenheit strebenden Menschen wie beim Wein: als Ausdruck seiner Herkunft, nicht als Resultat eifriger Bemühungen. Vor allem ihr Ursprung ist es, der Weine unterscheidbar macht, von anderen abgrenzt, ihnen Identität verschafft, mit allen geschichtlichen und kulturellen Implikationen. Seit je wird daher der Rheinwein vom Frankenwein, vom Moselwein und so fort unterschieden. Dafür gibt es ästhetische wie auch natürliche und kulturelle Argumente.
Nicht selten wird die Identität eines Weins mystifiziert. So verkündet „Das Buch vom Frankenwein“, dass ein „von unaufdringlichem Duft und natürlicher Kraft“, von „ehrlicher“ und „bodenständiger“ Art geprägter fränkischer Wein „wie die Landschaft kein Prahlhans“ sei, sondern vielmehr „ein Spiegel all dessen, was Franken ist“. Seine verborgene Seele zu entdecken und aufzuschließen verlange den geübten und „andächtigen Zecher“, der eine innere Bindung zum Wein, zum Frankenland und zu den Franken haben müsse, heißt es. Der Franke selbst wird als „wetterharter Volksschlag“ beschrieben, dem „das übersprudelnd lustige, vielleicht auch manchmal etwas vorlaute Wesen der Bevölkerung in anderen Weinbaugegenden“ abgehe. Der Franke sei „ernster und kühler; aber unter der rauen Schale birgt sich ein guter Kern: fester, ehrlicher Charakter, biederer Sinn und treue Anhänglichkeit an alte Sitte sowie erprobte Erfahrung“.
Wenn nun ein Mosellaner sein enges Schiefertal verlässt, um das weitflächige Frankenland, noch dazu seine berühmteste Lage, den hinterm Hauptbahnhof auf breiter Fläche aufsteigenden Weinberg „Würzburger Stein“, zu betreten, zu bearbeiten und zu beernten, dann birgt das einiges an Spannungs- und möglicherweise auch Konfliktpotenzial.
Wenn auch der steinige „Stein“ noch nie den oben beschriebenen klassischen Frankenwein hervorgebracht hat (allein schon deswegen nicht, weil er seine Bedeutung und Reputation vor allem dem Riesling verdankt, der in Franken ansonsten eher Gastrecht besitzt und mengenmäßig eine untergeordnete Rolle spielt), so ist diese Lage doch der Franken Stolz. Sie gehört wie die Residenz und die Feste Marienberg zu den Wahrzeichen der Barockstadt, den sogenannten Steinwein hat schon Goethe besungen und in Weimar mürrisch vermisst, und damals wie heute teilen sich noch immer die drei großen Würzburger Weingüter 98 Prozent der 77 Hektar umfassenden Rebfläche: der dem Freistaat Bayern gehörende Staatliche Hofkeller Würzburg (Besitz: 27 Hektar), das Juliusspital (21 Hektar) und das Bürgerspital (28 Hektar).
Wie neuerdings der Hofkeller, so wird auch das Bürgerspital von einem Mann geleitet, der von der Mosel, konkreter: aus Wiltingen an der Saar kommt und dort sein Winzerhandwerk gelernt hat: Helmut Plunien. Seit 2001 zeichnet er als Direktor und Kellermeister in Personalunion für die Weine verantwortlich. Mit etwas mehr als 10 Hektar Rieslingfläche ist das Bürgerspital der bedeutendste Rieslingproduzent nicht nur im Stein, sondern in ganz Franken. Dass ein mit Riesling aufgewachsener Mosellaner hier tätig ist, scheint zu passen: Die vertraute Sorte, der steile Südhang – alles da. Bis auf den Schieferboden, da in Würzburg der Muschelkalk des Trias das geologische Ausgangsgestein bildet.
Einer der herausragenden Weine des Bürgerspitals ist der Würzburger Stein Riesling aus der als „Große Lage“ klassifizierten „Hagemann“-Parzelle, einem im unteren, also mainnahen Steinstück gelegenen Weingarten mit besonders heißem Kleinklima. Das sorgt für eine gegenüber anderen Stein-Parzellen etwas frühere Blüte und bedingt somit eine noch längere Vegetationszeit. Die dicht gepflanzten Reben sind etwa 40 Jahre alt und bringen nur wenig Ertrag. Im Zusammenhang mit der späten Lese vollreifer Trauben sorgt dies für besonders geschmacksintensive Beeren und, so sollte man annehmen, auch für ebenso fruchtige wie vielschichtige und körperreiche Weine. Doch dem ist nicht so, sagen zumindest einige Franken. Fränkische Winzer und Meinungsmacher bezeichnen den „Hagemann“ des Bürgerspitals als „gut“ und „ausdrucksvoll“, aber hinter vorgehaltener Hand auch als „etwas schwachbrüstig“ und „nicht fränkisch“. „Aus dieser Lage und bei derart alten Reben müssten die Weine viel mächtiger und konzentrierter sein“, heißt es.
Und tatsächlich: Der „Hagemann“ ist weder opulent noch sonderlich kraftvoll. Dennoch ist er reif und reichhaltig, zugleich aber geradlinig und von nachdrücklicher Mineralität. Seine Klasse zeigt er frühestens nach 20 Monaten. Seinen Höhepunkt erreicht er nach vier bis fünf Jahren und behält ihn gewiss ebenso lang.
Nicht fränkisch? Möglicherweise haben sich einige fränkischen Winzer so an die binnen kürzester Zeit fruchtige Aromen freisetzenden und den Most innerhalb weniger Wochen zu Wein vergärenden industriellen Reinzuchthefen gewöhnt, dass sie den geschönten und geschnörkelten Charakter ihrer Weine für den wahren Charakter des Frankenweines halten, den „Hagemann“ aber unfränkisch nennen.
Anstatt über Kraft und Konzentration würde Plunien mit seinen Kollegen lieber darüber diskutieren, ob ein „großes Gewächs“ tatsächlich 13 oder 14 Volumenprozent Alkohol benötigt, um als großer Wein gelten zu können. Seiner Ansicht nach sollte auch ein Spitzenwein „schlank, stahlig und nervig“ sein dürfen, um Trinkfreude zu bereiten.
Doch diese Meinung hat Plunien, zumindest im barocken Würzburg, exklusiv. Den Franken wächst zu viel Mosel-Riesling in ihrem Heiligtum, dem Stein: Im „Hagemann“, erst recht aber in der feinherben „Würzbuger Stein Harfe Riesling trocken“, die Plunien so himmlisch zu spielen versteht.
Während die „Harfe“ dem am vorherrschenden Meinungsklima nicht unbeteiligten Weinführer „Weinguide Deutschland 2006“ von Gault Millau nicht mal einen Eintrag wert ist, bügeln die Autoren die als „großes Gewächs“ vermarktete 2004er „Würzburger Stein Hagemann Riesling Spätlese trocken“ mit mickrigen 84 von 100 Punkten als eher kleinen Wein ab. Es ist das Urteil eines auf das Sezieren vordergründiger Parameter reduzierten Weinverständnisses, das keinen Sinn hat für die unaufgeregten und subtilen Botschaften eines Weins, sein inneres Gesamtgefüge, seine Eleganz und Harmonie.
Pluniens innerbetriebliche Bemühen um Anerkennung seiner zielstrebigen, forschen Art führten bei den zunächst überraschten und verhaltenen Franken recht schnell zum Erfolg. Um Verständnis für seine Position zu gewinnen – „traditionell bereitete Weine ohne Chichi“ –, musste er sein Weinbergs- und Kellerteam mehrmals an Mosel, Saar und Ruwer führen. „Ich merkte, dass ich mit meinen Vorstellungen bei meinen Leuten auf Unverständnis stieß.“ Plunien hat sein Team zu den besten Produzenten der Region geführt und deren Rieslinge probieren und erklären lassen. „Inzwischen“, verrät er fast stolz, „habe ich sogar einen Mitarbeiter an Leiwen verloren.“
Tatsächlich praktiziert die Mannschaft des Bürgerspitals inzwischen ein Stück Mosellaner Weinkultur inmitten der bedeutendsten Lage Frankens: Die spät gelesenen Trauben werden direkt gepresst, ohne dass sie abgebeert und gemaischt werden; das hält die Säure präsenter und den Wein schlank. Der Most wird dann ohne Zugabe von Reinzuchthefen und Enzymen langsam vergoren und bis in den Juni hinein im hölzernen Doppelstückfässern auf der Feinhefe belassen. Die spät abgefüllten Weine des Bürgerspitals sind daher keine tropischen Fruchtbomben mit Sirenenalarm, sondern aromatisch subtile, vielschichtige und ausdrucksvolle Weine mit langer Lebenserwartung und klarer, die Eigenarten der Lage abbildender Frucht. Und natürlich ist in jedem Wein des Bürgerspitals ein gutes Stück Plunien drin.
Der Mosellaner staunt nicht lange über Wein, er trinkt ihn lieber. Er verträgt ihn auch, denn der Moselwein ist leichtfüßig, filigran und bekömmlich. Er ist das Vehikel eines Gesprächs, nicht dessen Inhalt. Daher geht der Mosellaner auch häufiger in den Keller, um Nachschub zu holen, als etwa der Franke. Der kann zwar auch bis nachts um vier beim Wein sitzen, aber er tut es andächtig und grübelnd. Mit einem Bocksbeutel hat er genug. Zum Moselwein verhält sich der Frankenwein wie dessen Antithese: Bodenständigkeit gegen Unbeschwertheit; andächtige Frömmigkeit gegen Bigotterie; kontemplative Tiefsinnigkeit gegen schlüpfrige Zoten. Irgendwie hat Helmut Plunien diesen Spagat dann doch sehr ordentlich und vor allem: bekömmlich gemeistert.
STEPHAN REINHARDT, Jahrgang 1967, lebt in Hamburg als freier Journalist und Autor