Law and Order vs. Protest: Die Grünen sind gefordert

Ziviler Ungehorsam hat die Menschheit vorangebracht. Nun beanspruchen Klimaaktivisten und Impfpflichtgegner diesen Begriff für sich. Doch da gibt es einen Unterschied.

Aktivisten der Initiative „Letzte Generation“ blockieren eine Autobahnabfahrt Foto: dpa

Von UDO KNAPP

Ziviler Ungehorsam hat die Geschichte der Zivilisation auf ihrem Weg zu Emanzipation und rechtsstaatlich gefasster Freiheit geprägt. Henry David Thoreau – Steuerboykott, Mahatma Ghandi – Widerstand gegen die britische Kolonialmacht, Martin Luther King – Anti-Rassismus, Nelson Mandela – Anti-Apartheid, zuletzt auch Alexei Navalny und Svetlana Tichanowskaja mit ihrem Widerstand gegen kleptokratische Diktatoren: Immer wieder hat ziviler Ungehorsam erfolgreiche und allerdings auch gescheiterte Heldengeschichten geschrieben.

Jürgen Habermas hat zivilen Ungehorsam 1983 definiert als „moralisch begründeten, öffentlichen Protest mit symbolischem Charakter, der eine vorsätzliche Verletzung von Rechtsnormen beinhaltet und die Anerkennung der rechtlichen Folgen einschließt.“

Habermas wie auch John Rawls und Hannah Arendt definieren zivilen Ungehorsam als legitimes Mittel des politischen Kampfes um Veränderung. Immer wieder waren es Einzelne, die unter Einsatz ihres Lebens den Mächtigen, mutig deren Gesetze brechend, Wandel abgetrotzt haben. Immer war der zivile Ungehorsam aber auch der verzweifelte letzte Versuch, den Wandel ohne Revolution, Gewalt oder Terror herbei zu zwingen. In diesem Kontext ist die aktuelle Inanspruchnahme des zivilen Ungehorsam durch den „Aufstand der letzten Generation“ und auch von Impfverweigerern zu bewerten.

Die „Letzte Generation“ kämpft mit Blockaden gegen Lebensmittelverschwendung

Die jungen und ein paar nicht mehr ganz junge Leute, die sich „Letzte Generation“ nennen, blockieren derzeit Autobahnauffahrten und kleben am Asphalt mit Uhu fest. Sie verlangen von der Bundesregierung mit der Parole „Essen retten – Leben retten“ ein sofortiges Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung. Die Tatsachen sprechen für ihre Forderung. Der Berliner Umweltsenat beziffert die in der Stadt jährlich weggeworfenen Lebensmittel auf 375.000 Tonnen. Im Einzelhandel werden nach Angaben von Lidl, Aldi und Co. 500.000 Tonnen Lebensmittel pro Jahr in den Müll geworfen. Alle Versuche, diese Verschwendung mit Gesetzen einzugrenzen, sind bisher an der Politik und der Lobby der Ernährungswirtschaft gescheitert.

Die jungen Leute von der „Letzten Generation“ bestellten Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) zum Gespräch, um ihn auf Gesetzeskurs zu zwingen. Der erklärte seine Gesprächsbereitschaft, aber nicht per Ultimatum. Gleichzeitig sagte er auch, „dass Straßenblockaden unserem gemeinsamen Ziel schaden“. Die Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) teilte mit, sie würde doch wegen dieser Blockaden keinen Koalitionskrach mit der FDP riskieren. Der zivile Ungehorsam der Letzten Generation stört die Grünen beim Regierungsgeschäft. Das ist nachvollziehbar.

Die moralische Selbstüberhebung der „Letzten Generation“ ist anmaßend selbstbezogen und fundamentalistisch wirklichkeitsfremd. Aber bisher will sie nur die Welt mit einem Gesetz retten. Insoweit ist dieses Vorgehen der „Letzten Generation“ ziviler Ungehorsam und zu tolerieren.

Aktivisten und Regierende sollten für Gespräche offen bleiben

Allerdings führt die Ankündigung, die „Häfen und Flughäfen als Ausdruck unseres unveränderten fossilen Alltags zu stören und zum Innehalten zu bringen“, den Protest in die Nähe von Sabotageakten der kritischen Infrastruktur, die mit „Zivilem Ungehorsam“ nichts mehr gemein haben. Es besteht die Gefahr, dass die Blockierer ein ins Absolute reichendes Widerstandsrecht gegen die ja tatsächlich Leben gefährdende fossile Politik der Regierenden für sich reklamieren – und sich damit aber aus dem politischen Prozess des ökologischen Wandels verabschieden.

Die Grünen an der Regierung haben hier, auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen militanten Geschichte, etwa im zeitgleichen Kampf gegen die Atomkraftwerke und dem Weg in die Parlamente, die Verpflichtung, durch Offenheit gegenüber den Blockierern zu verhindern, dass diese alle Brücken zu einem konstruktiven politischen Mittun am ökologischen Umbau einreißen. Das ist sicher nicht einfach, aber notwendig.

Derweil verstoßen die Impfverweigerer fortwährend gegen das Versammlungsgesetz. Sie halten sich seit Monaten in der Öffentlichkeit nicht an die Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes. Sie verbreiten volksverhetzende Verschwörungstheorien mit antisemitischem Inhalt. Das Impfen sei eine jüdische Erfindung, um möglichst viele Menschen umzubringen und dann die jüdische Weltherrschaft zu errichten (siehe dazu Samuel Salzborn, „Verschwörungsmythen und Antisemitismus“, Studie der Bundeszentrale für Politische Bildung 2021). Die Impfverweigerer gefährden die Gesundheit der impfwilligen Mehrheit der Bevölkerung, lösen menschliches Leid aus und richten wirtschaftlichen Schaden an. Jetzt bedrohen sie mit Fackeln, Böllerschüssen und Geschrei die Privathäuser von Oberbürgermeister Szarata in Halberstadt, Ministerpräsident Kretschmann in Sigmaringen und Ministerpräsident Kretschmer in Görlitz. Die Bundestagsabgeordneten Henning Otte (CDU) und Carmen Wegge (SPD) erhielten Morddrohungen von Impfgegnern.

Demokratiefeindliche Hetze von Impfgegnern wird verharmlost

Auch das wird von den Impfgegnern als „ziviler Ungehorsam“ bezeichnet. Die Politik reagiert routiniert empört, faktisch aber bagatellisierend. Da wird von „Tabubruch“ (Sachsens-Anhalts Ministerpräsident Haseloff) und von „Missbrauch des Versammlungsrechts“ (Sachsen-Anhalts Innenministerin Zieschang) gesprochen. Zugleich wird mit parteipolitischen Argumenten eine allgemeine Impfpflicht sabotiert. In Bund und Ländern werden stattdessen weiter kostspielige und von vorneherein chancenlose Überzeugungskampagnen zur Erhöhung der Impfquote unternommen. Die Ministerpräsidenten der Länder übertrumpfen sich derweil gegenseitig beim Lockern der Corona-Einschränkungen. Das alles wird getoppt von der Aufforderung einiger Ministerpräsidenten, die einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht umzusetzen, also ein rechtsgültiges Bundesgesetz.

Diese Politik verbreitert durch falsche Toleranz den politischen Spielraum der Impfverweigerer. Faktisch wird achselzuckend zugesehen, wie eine rechtsstaatsfeindliche Systemopposition immer stärker wird. Die Medien erhöhen durch skandalisierende Beichterstattung den Hallraum der Impfschwurbler noch. Den Handlungsrahmen des tradierten zivilen Ungehorsams hat diese Bewegung längst verlassen.

Diese Entwicklung müsste besonders Klimapolitiker und die Grünen beunruhigen. In Frankreich und jüngst in Kanada kann man sehen, wie der populistische Systemkampf gegen das Impfen in einen militanten Kampf gegen die Zumutungen einer sich gerade erst rechtstaatlich artikulierenden Klimapolitik überführt wird.

Der entscheidende Unterschied

Im Sinne der Helden des historisch erfolgreichen zivilen Ungehorsams gibt es also allen Grund, mit den Jungen aus der „Letzten Generation“ zu reden, darum zu ringen, ihren zivilen Ungehorsam als dynamisches Moment zu nutzen, um mit dem ökologischen Umbau der Gesellschaft voranzukommen.

Auf der anderen Seite gäbe es allen Grund, mit einer konsequenten Grünen Law-and-order-Politik den Impfschwurblern nach Recht und Gesetz die Rote Karte zu zeigen. Und damit schon heute für die Mehrheit aller Bürger sicherzustellen, dass eine mit demokratischen Mehrheiten beschlossene Klimapolitik nicht an populistischen oder gar offen demokratiefeindlichen Bewegungen scheitern wird.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen.

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