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Archiv-Artikel

Latino Power

Freiheitsstatue vs. Great Wall: Im Streit um die illegalen Einwanderer aus Lateinamerika offenbaren sich zwei widerstrebende Traditionslinien im Selbstverständnis der USA

Die „Gastarbeiter“-Idee markiert einen Bruch mit dem Selbstbild der USA als Einwanderungsland

Die seltene Gelegenheit, Präsident Bush zu loben, sollte man nicht verstreichen lassen. Zu loben ist sein Widerstand gegen jene Kräfte in seiner Partei, welche die Einwanderung radikal einschränken, die Südgrenze der USA mit einer 1.000 Kilometer langen Mauer zur Festung ausbauen und illegale Einwanderer deportieren wollen. Gegen einen solchen, vom rechten Flügel im Repräsentantenhaus eingebrachten Gesetzentwurf hat der US-Senat schon Stellung bezogen: Der von beiden Parteien getragene Alternativentwurf sieht neben schärferen Kontrollen der US-Grenzen (sowie der Arbeitgeber, die Illegale beschäftigen!) eine maßvolle Erhöhung der Einwanderungsquote und eine Teillegalisierung der rund 12 Millionen Illegalen in den USA vor. Und, man höre und staune: ein „Gastarbeiter-Programm“.

Damit knüpfen die USA an ein Modell an, das in Westeuropa schon vor dreißig Jahren gescheitert ist: Hier trog die Erwartung, solche „Gastarbeiter“ würden tatsächlich rotieren – sich also nicht dauerhaft ansiedeln, keine Familienangehörigen nachkommen lassen und nicht um die Staatsangehörigkeit nachsuchen. Doch die Idee zeigt, wie sehr sich das amerikanische Einwanderungsmodell im Wandel befindet. Es war geprägt durch ein Staatsbürgerideal, das inklusiv genug war, mitgebrachte und imaginierte Herkunftsidentitäten in den Hintergrund zu drängen. Die amerikanische Zivilreligion vermochte ethnisch-religiöse Differenz zu privatisieren bzw. zu „ökumenisieren“. Das Konzept des Americanism und der „Nation unter Gott“ vermied es, Neuankömmlingen mehr als das landesübliche BBQ zu verordnen – oder gar europäische Staat-Kirche-Verhältnisse, die „sonstige“ Bekenntnisse als Sekten minderen Rangs abqualifizieren.

Religionsfreiheit – das heißt: eine Religion ausüben zu dürfen, aber auch von ihr in Ruhe gelassen zu werden – ist der säkulare Kern des amerikanischen Gesellschaftsvertrags zwischen Einheimischen und Einwanderern. Er kommt ohne substantielle Leitkultur aus, erlaubt jedoch über die prozedurale Anerkennung von Verschiedenheit (verfassungs)patriotische Gemeinsamkeitsgefühle. Dagegen haben sich im Laufe der US-Geschichte stets nativistische und xenophobe Strömungen gestemmt, die das angloamerikanische (und protestantische) Kulturerbe verteidigten und sich gegen katholische, jüdische oder farbige Einwanderung wandten. Ein weiterer Reflex war ökonomischer Natur: Gewerkschaften schoben „cheap labour“ einen Riegel vor und mobilisierten gegen weitere Immigration. Eine weitere Barriere stellten Sicherheitsbedenken dar, die stets auch Verschwörungstheorien großen Raum ließen. Dass von draußen nichts Gutes zu erwarten sei, diese Auffassung gehört zu den Konstanten im Selbstverständnis der Vereinigten Staaten wie die Ideologie der Freiheit, die Verfolgten und Armen in den USA eine Chance gibt.

Freiheitsstatue vs. Great Wall: Dieser permanente Widerstreit aktualisiert sich jetzt unter veränderten Bedingungen. Zum einen hat sich Immigration seit 1965 stark verändert: Sie ist nicht nur farbiger geworden (verstärkt durch höhere Geburtenraten der Einwanderer aus der Dritten Welt), sondern auch transitorisch und transnational: Vor allem die Hispanics lernen nicht mehr selbstverständlich Englisch und wollen auch nicht mehr unbedingt U.S. Citizens werden. Hinzu kommen billige Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten, die einen ständigen kleinen Grenzverkehr erlauben. Manche Gesellschaften in Mittelamerika leben zu einem großen Teil von den Mitbringseln und Überweisungen der Landsleute, so wie bestimmte Branchen den Standort USA nur aufgrund der Billiglöhner aufrechterhalten. Das Freihandelsabkommen mit Mexiko tut ein Übriges. Die wirtschaftliche Globalisierung, die solche Entgrenzung mit sich bringt, ist wie ein Schock ins amerikanische Bewusstsein getreten. Die Terroranschläge haben die Sicherheitsbedenken verschärft – denn wenn jährlich bis zu einer Million Illegale über die von Grenzpatrouillen und Privatmilizen scharf bewachten Grenzen gelangen, schaffen das sicher auch Terroristen.

Auch das Identitätsproblem gewinnt an Bedeutung: Während auf der einen Seite der Oscar-gekrönte Film „L.A Crash“ die komplexe Seelenlage von Los Angeles erkundet, US-Bischöfe Grenzverletzern Kirchenasyl anbieten und Fachleute die gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseffekte illegaler Einwanderung vorrechnen, geben Samuel Huntington, der seine fragwürdige Kulturkampfthese auf die Hispanics anwendet und diese zum Desintegrationsrisiko erklärt, und andere Untergangs- und Überfremdungspropheten derzeit den Ton in der Debatte an.

Die steigende Nervosität nutzen Demagogen wie der republikanische Abgeordnete aus Colorado, Tom Tancredo. Eine beachtliche Minderheit ruft Umfragen zufolge nach radikaler Abschottung und drakonischen Strafmaßnahmen. Sie argumentieren, die Legalisierung im Jahr 1986 habe den Zustrom aus dem Süden nicht verringert und das Gastarbeiter-Programm sei ein Placebo. Die meisten Amerikaner finden aber auch, das wirksamste Mittel gegen Lohn-Dumping sei die Bestrafung der Arbeitgeber, die Illegale einstellen.

Die Neoisolationisten demonstrieren nur den konservativen Widerspruch, der auf kurzsichtige Ausbeutung billiger und williger Arbeitskraft aus ist und die langfristigen Effekte auf die Sicherheitsorgane abwälzt – oder der Volkswut und Lynchjustiz überlässt. In den Grenzregionen geht es bisweilen zu wie im Krieg, hunderte von Menschen sind dabei schon auf der Strecke geblieben. Gegen diese Entwicklungen gehen selbstbewusste Einwanderer, darunter massenhaft Illegale, auf die Straße – zuletzt am 1. Mai. Sie führen der US- Gesellschaft vor, dass sie ohne Illegale nicht mehr weitermachen kann. Gewicht haben die Hispanics aber auch als Wähler, ethnische Lobbys und Role Models im Showbiz.

Von draußen ist nichts Gutes zu erwarten: Diese Überzeugung ist den USA eigen wie die Ideologie der Freiheit

Anfangs waren auf den Straßen viele mexikanische Nationalflaggen zu sehen, dann Plakate mit der Aufschrift: „Wir sind auch Amerikaner“. Selbstbewusste Chicanos sehen Kalifornien nicht mehr als den mythischen Westen der USA, sondern als Norden einer hispanischen Reconquista. Typischer ist aber, dass sich auch die Latinos als lupenreine US-Patrioten gerieren. Angehörige der zweiten und dritten Generation fühlen sich zum großen Teil als Amerikaner und demonstrieren protestantische Arbeitsethik. Die Synthese formulierten kürzlich Latino-Popstars mit „Nuestro Himno“, einer spanischen Version der US-Nationalhymne. Die ging dann aber selbst US-Präsident Bush etwas zu weit: Amerikaner sollten schon Englisch reden und singen, befand er.

Die transnationale Natur heutiger Wanderungsbewegungen lässt überall Gastarbeiter neuen Typs entstehen. Es wäre jedoch Ausdruck panischer Verzweiflung, wenn ausgerechnet die USA der Flexibilität des Weltmarkts eine rigide lead culture entgegensetzten und sich weiter isolierten. CLAUS LEGGEWIE