: Langzeitstudent, der Seele wegen
GESUNDHEIT Immer mehr StudentInnen kommen in die psychologischen Beratungsstellen. Die Unizeit lässt zu wenig Freiräume für Krisen
SABINE KÖSTER, PSYCHOTHERAPEUTISCHE BERATUNGSSTELLE KARLSRUHE
VON BARBARA DRIBBUSCH
Eigentlich hatte bei Niklas, 27, nach dem Abi alles gut ausgesehen. Die Noten waren gut und das Studienziel stand fest: Physik und Mathematik. Er begann ein Studium an einer renommierten Universität in einer westdeutschen Kleinstadt. Heute, nach 14 Semestern, gilt er als Langzeitstudent, ist krankgeschrieben und macht eine Psychotherapie wegen seiner Depressionen. „Ich hatte zu wenig Freiheit“, sagt er. Das war ein Teil des Problems.
Niklas gehört zur wachsenden Schar von Studierenden, die psychologische Hilfe suchen, in Praxen, in Beratungsstellen oder via Internet. In Karlsruhe etwa verdoppelte sich die Zahl der Anfragen innerhalb von zehn Jahren, berichtet Sabine Köster, Leiterin der psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerks. In Bremen wuchs die Zahl der Anfragen in den vergangenen zwei Jahren um 20 Prozent. Eine oft zitierte Expertise der Max-Traeger-Stiftung legt eine Verbindung zu den strenger durchgetakteten Bachelor-Studiengängen nahe. Doch ein solcher Zusammenhang „ist nicht eruiert“, betont Elisabeth Medicus-Rickers von der psychologisch-therapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerks Bremen. Die Dinge liegen komplizierter.
Auch Niklas, der in Wirklichkeit anders heißt, erzählt eine individuelle Geschichte. Nach einigen Semestern stellte er fest, dass ihm das Physikstudium zu verschult und zahlentechnisch war. „Doch dann war es zu spät, um noch zu wechseln“, schildert er. Hinzu kamen Probleme mit dem BAföG-Antrag, die ihn monatelang ohne einen Cent dastehen ließen. Für ein Nebenjob fehlte die Zeit. Als das Bafög nach zehn Semestern auslief, türmten sich die Probleme.
Die Unizeit „ist ohnehin schon eine krisenanfällige Lebensphase, man löst sich von den Eltern, zieht in eine fremde Stadt, geht Beziehungen ein“, sagt Köster. Zu ihr kämen viele begabte junge Leute, die durch Liebeskummer, Heimweh oder auch die Erkenntnis, das falsche Studienfach gewählt zu haben, innerlich aus der Bahn geworfen werden. „Dann aber fehlt der zeitliche Spielraum für individuelle Umwege“, so die Beraterin.
„Früher konnte man Probleme eher aussitzen. Ich habe damals zwei Semester wegen einer unglücklichen Liebe verloren. Ein, zwei Semester gingen für Lebensstilexperimente drauf“, erzählt schwärmerisch Stefan Grob, Sprecher des Deutschen Studentenwerks.
Doch heute geht es so streng zu, dass nun die steigenden Krankmeldungen vor Prüfungen zu neuen Verdächtigungen führen. „Fragwürdige Krankschreibungen nehmen überhand“, klagte ein Mediziner der TU Dresden im Deutschen Ärzteblatt. Bei einer Medizinklausur war ein Viertel der StudentInnen nicht gekommen und ließ sich stattdessen mittels Attest Erkrankungen bescheinigen. Angst/Panikstörungen bildeten immerhin die dritthäufigste Diagnose. Wie offen die Ärzte in den sogenannten Prüfungsunfähigkeitsbescheinigungen die Beschwerden ihrer studentischen Patienten darlegen müssen, wird inzwischen verstärkt an Universitäten diskutiert.
„Wenn eine Prüfung aus psychischen Gründen nicht zu schaffen ist, raten wir zur Krankschreibung“, sagt Medicus-Rickers. Nach einer Studie der Techniker Krankenkasse schlucken StudentInnen überproportional häufig Antidepressiva.
Die Kunst besteht darin, die Kurve wieder zu kriegen. „Es gibt weiterhin den Plan, den Abschluss zu machen“, sagt Niklas. Doch Angst hat er schon, dass ihm die Zeit davonrennt – obwohl mit erst 27 Jahren rein rechnerisch eine lange Erwerbsphase von 40 Jahren auf ihn wartet.