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Archiv-Artikel

Lange Maloche schreckt ab

40-Stunden-Woche mobilisiert die Beschäftigen im öffentlichen Dienst und in der Metallbranche. Ver.di gegen längere Arbeitszeiten. Bocholter Siemens-Beschäftigte wollen Tarifvertrag zurück

VON KLAUS JANSENUND MARTIN TEIGELER

Der NRW-Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst wird mit baden-württembergischen Mülltonnen ausgetragen. Die kommunalen Arbeitgeber verzichteten gestern überraschend darauf, den Tarifvertrag für die 500.000 Beschäftigten zu kündigen. Die Gewerkschaft Ver.di streikt seit Tagen in mehreren Bundesländern gegen die 40-Stunden-Woche – und die NRW-Gemeinden warten gespannt auf das Ergebnis.

„Wir beobachten genau, was in den süddeutschen Ländern passiert“, sagt Theo Hindahl, Geschäftsführer der kommunalen Arbeitgeber. Länder und Kommunen hoffen darauf, dass die Gewerkschaftsstrategie der überquellenden Mülltonnen den betroffenen Bürgern schon bald auf die Nerven geht. Die Argumentation: Wer sich über einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst freuen darf, sollte sich nicht über 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag erregen. „Wir wollen flexiblere Arbeitszeiten. Die 40 Stunden stehen noch auf der Tagesordnung“, so Hindahl zur taz. Ver.di-Landeschefin Gabriele Schmidt warf den Arbeitgebern hingegen vor, auf Zeit zu spielen.

Vor Beginn der Gespräche in der Duisburger MSV-Arena hatten rund 3.000 Gewerkschafter gegen eine längere Arbeitszeit demonstriert. Zudem setzten rund 2.700 Beschäftigte in sechs nordrhein-westfälischen Uni-Kliniken ihre Streiks fort. NRW-Finanzminister Helmut Linssen (CDU) hatte die Klinikleitungen zuvor angewiesen, den Forderungen von Ver.di nicht nachzukommen. Linssen beharrt wie seine Minister-Kollegen in den bestreikten Bundesländern darauf, die 40-Stunden-Woche im gesamten öffentlichen Dienst einzuführen.

Unterstützt werden die Arbeitgeber von liberalen Ökonomen: Es wäre „ein Signal für old Germany, ein Rückschritt in die frühen 90er Jahre“, wenn Ver.di mit seinen Forderungen durchkäme, erklärte gestern Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Die Gewerkschafter verweisen hingegen darauf, dass jede Arbeitszeitverlängerung Stellen koste und Lohneinbußen bringe – allerdings müssen auch sie eingestehen, dass sie „die leidige 18-Minuten-Debatte“ Sympathien gekostet habe.

„Die Gewerkschaften führen Abwehrkämpfe in allen Bereichen“, sagt Klaus Kraemer vom Forschungsinstitut Arbeit und Bildung Partizipation (FIAB) in Recklinghausen. Bei Arbeitszeit, Lohn und Beschäftigungsbedingungen seien die Arbeitnehmervertreter meist in der Defensive. „Verdi soll offenbar beim Thema Arbeitszeit geknackt werden“, so Sozialwissenschaftler Kraemer. Eine Niederlage der Gewerkschaft und eine flächendeckende Einführung der 40-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst wäre ein „Dammbruch“.

In anderen Branchen ist der „Dammbruch“ bereits erfolgt. 2004 akzeptierten IG Metall, Betriebsrat und Beschäftigte das so genannte „Bocholter Modell“ bei Siemens. Der Großkonzern hatte damit gedroht, die rund 4.000 Arbeitsplätze in den Werken Kamp-Lintfort und Bocholt teilweise nach Ungarn zu verlagern, um Kosten zu sparen. In Kamp-Lintfort stellte Siemens Handys her, in Bocholt werden schnurlose Festnetz-Telefone gefertigt. Um ihre Jobs in NRW zu retten, schluckten die Siemens-Arbeiter die 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich sowie Kürzungen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld.

Doch nun will die IG Metall bei Siemens Bocholt heraus aus der Defensive – und die ungeliebte 40 loswerden. Der alte Flächentarifvertrag mit 35-Stunden-Woche soll wieder her: „Die Mitarbeiter vermissen einen großen Teil der Gegenleistungen, die Siemens für fünf Stunden unbezahlte Arbeitszeit pro Woche in Aussicht gestellt hat“, sagt der örtliche IG-Metall-Chef Heinz Cholewa. Vor allem an Investitionen und neuen Produkten mangele es nach wie vor. Ein Siemens-Sprecher bezeichnete die Bocholter Lösung dagegen als Erfolgsmodell. „Wir haben eine neue Situation“, so der Bocholter Betriebsratsvorsitzende Michael Stahl. Nachdem das Werk Kamp-Lintfort nicht mehr zum Siemens-Hauptkonzern gehört, könne der profitablere Standort Bocholt wieder zum Flächentarifvertrag zurückkehren (siehe Interview).

Allerdings gestattet auch der Flächentarifvertrag in der Metallbranche seit 2004 Öffnungsklauseln, die das starre 35-Wochenstunden-Schema aufbrechen. „Es gibt Möglichkeiten der Abweichung“, sagt NRW-Metallarbeitgeber-Sprecher Eberhard Vietinghoff. In der aktuellen Metall-Tarifrunde ist das Thema Arbeitszeit kein Thema. Erst 2007 will die IG Metall prüfen, ob es weiter Abweichungen von der 35-Stunden-Woche geben soll.