Lange Haft für Michelles Mörder: Keinerlei Emotionen
Daniel V. wurde wegen Vergewaltigung und Mord zu neuneinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt. Beim Urteil zeigte Daniel V. keine Regung. Das Urteil dringt nur mit großer Verzögerung zu ihm durch.
LEIPZIG ap | Bis ganz zum Schluss waren bei Daniel V. keinerlei Emotionen zu verspüren. Im kurzärmeligen, gestreiften Hemd saß der 19-Jährige neben seinem Anwalt Malte Heise, hörte sich an, was Staatsanwalt Klaus-Dieter Müller, sein Verteidiger und schließlich Richter Norbert Göbel über ihn und sein Verbrechen berichteten, wie sie ihn beurteilten. Und auch als er letztlich vernahm, dass er für neun Jahre und sechs Monate ins Gefängnis muss, zeigte er keinerlei Regung. Man hatte den Eindruck, dass er gar nicht richtig verstand, was mit ihm geschehen war.
Dabei waren insbesondere die Worte von Richter Norbert Göbel durchaus dazu angetan, den Angeklagten aus seiner während des gesamten Prozesses zu beobachtenden Lethargie zu reißen. Göbel schilderte den 18. August 2008, den Tag, an dem die achtjährige Michelle nicht von den Ferienspielen zurückkam.
Wie die Eltern, die zufällig beide zu Hause waren, anfingen, sich Sorgen zu machen, wie die Sorge schließlich in Panik umschlug. Natürlich konnten sie nicht ahnen, dass ihre Tochter ihrem Mörder in die Hände gefallen war, der das Nachbarkind kannte und es unter einem Vorwand mit in seine Wohnung nahm. Natürlich konnten sie nicht ahnen, dass sie ihr Kind nie wiedersehen würden.
Opfer tagelang beobachtet
Daniel V. hatte die Tat geplant, auch den Mord, war sich die Kammer unter Göbel sicher. Er hatte das Mädchen tagelang beobachtet, sich in sexuelle Fantasien hineingesteigert. Der Jugendliche, der noch keinerlei sexuelle Erfahrung hatte, wollte ausgerechnet bei der Achtjährigen erste Erfüllung finden. "Und dabei wusste er, dass es sich dabei um eine Straftat handelt", erklärte Göbel.
Die Richter kamen zum Schluss, dass er auch den Mord geplant hatte. Schließlich hatte er nicht nur Klebeband zurechtgelegt, mit dem er Michelle knebeln wollte, sondern auch eine Wasserschüssel, in der er ihren Kopf tauchen, und Alkohol, den er ihr einflößen wollte.
"Das Leben von Michelle war ihm gleichgültig", konstatierte Göbel, und Daniel V. nahm dies reglos auf. Er wurde als Mörder eingestuft, weil die Mordmerkmale "Verdeckung einer Straftat" und "niedrige Beweggründe" vorliegen. Der Richter sprach von einem Verbrechen "auf der untersten Stufe".
Strafmildernd wertete die Strafkammer das Geständnis, mit dem er die Ermittlungen wesentlich erleichterte. Außerdem kämen darin echte Reue und Einsicht zum Ausdruck. Der Brief mit einer Entschuldigung an die Eltern Michelles, den diese zurückwiesen, spreche für Daniel V. Auch dass der Angeklagte eine leichte geistige Störung habe, sei berücksichtigt worden, ebenso der Umstand, dass "der Kindermörder im Knast das Letzte" und deshalb auch dort sozial isoliert sei.
Nach dem Willen der Staatsanwaltschaft hätte der 19-Jährige zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden sollen. Da der Angeklagte erhebliche Defizite in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung aufweise, sei bei ihm Jugendstrafrecht anzuwenden, hatte Staatsanwalt Klaus-Dieter Müller in seinem Plädoyer erklärt. Dieses sieht zehn Jahre als Höchststrafe für Mord vor. Verteidiger Malte Heise hatte dagegen acht Jahre und sechs Monate beantragt.
Ausmaß seines Verbrechens erst im Prozess erkannt
Als das Urteil verkündet ist, sitzt Verteidiger Heise noch eine Weile im Gerichtssaal mit seinem Mandanten zusammen, während sich Kameras und Fotoapparate auf sie richten. Es scheint, als müsse er Daniel V. erst einmal erklären, was da gerade passiert war und was das für ihn bedeutet. Alles scheint mit großer Verzögerung zu Daniel V. durchzudringen. In seinem Schlusswort sagte er, das Ausmaß seiner Tat sei ihm erst im Verlauf des Prozesses richtig bewusstgeworden. Er sei schockiert darüber, dass die Familie seines Opfers so tief traumatisiert sei.
Die Menschen im Gerichtssaal zeigen sich angesichts der Verschlossenheit des 19-Jährigen ratlos: Braucht Daniel V. tatsächlich so lange, um all diese Dinge aufzunehmen und zu verarbeiten? Spürt er nicht, dass er auf eine Wand der Ablehnung trifft? Oder ist es rein äußerlich, dass er teilnahmslos erscheint? Brodelt es in Wirklichkeit in seinem Innern, brechen sich die Wut, die Frustration, die Angst irgendwann einmal Bahn? So wie sie sich offenbar Bahn brachen, als er Michelle "das Schlimmste antat, was man einem Menschen antun kann", wie es Richter Göbel ausdrückte.
Der frühere Kripochef Uwe Matthias, der die Sonderkommission "Michelle" geleitet hatte, hörte das Urteil mit einer gewissen Genugtuung. Eigentlich hatte er in den Ruhestand treten sollen, aber wegen der Aufklärung des Mordes die Dienstzeit verlängert. Am Freitag wollte er noch einmal in seine ehemalige Dienststelle gehen, um endgültig dort den Schreibtisch auszuräumen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus