Landvermessung : Viel Neues in Südwest
Mehr Aufmerksamkeit und neue Wertschätzung für ein Bundesland geht kaum. Seit vielen Monaten schaut man in Deutschland, aber auch im Ausland auf Baden-Württemberg, interessiert, gespannt, auch verwundert. Als demokratisches Labor gilt es ja schon bei manchen prominenten Denkern nördlich von Heilbronn, also aus dem Rest der Republik. Doch dass sich jetzt auch noch der Papst beim Tête-à-tête mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann über Stuttgart 21 erkundigt hat, zeigt endgültig: viel Neues im Südwesten. Anlass genug, einer Frage nachzugehen, die hinter diesem breiten Interesse steht, die in die Tiefe geht: Wie tickt dieses Land, in dem heftig gestritten wird und in dem so viele Menschen aufgebrochen sind, um den Mächtigen Mores zu lehren und Politik selbst aktiv mitzugestalten.
Es ist Zeit, dieses Baden-Württemberg und seine Menschen intensiv zu beleuchten, dem Land buchstäblich nach-zu-denken und es dort aufzuspüren, wo seine Tiefenstrukturen, Eigenheiten, auch seine Ambivalenzen liegen – es also neu zu vermessen. Aus möglichst originellen Blickwinkeln, an spannenden Orten und mit markanten Geschichten und Gesichtern.
„Landvermessung“ heißt die Serie, die wir in dieser Ausgabe starten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden sich darin treffen, Kristallisations- und auch Brennpunkte des politischen, sozialen und religiösen Lebens bündeln. Und vielleicht auch Visionen, wie sich dieses neue, andere Baden-Württemberg weiter entwickeln kann oder sollte, jenseits seines gängigen Etiketts als Land der Tüftler, Schaffer und Cleverle. Und auch mit ihnen. Mit 60 Jahren ist man heutzutage nicht alt, sondern fast (noch) im besten Alter, also fähig zu Aufbrüchen, Veränderungen, auch Unbequemlichkeiten und Garstigkeiten. Baden-Württemberg wird im nächsten Jahr 60. Als demokratisches Labor ist es jedenfalls sehr jung und gerade jetzt, in diesen Zeiten des Streits, so spannend, um mitunter vielleicht neu entdeckt zu werden – bevor dann 2012 die traditionellen Jubelarien zum Landesjubiläum angestimmt werden.
Vor fast 200 Jahren gab es eine historisch-reale Landesvermessung des Königreichs Württemberg, sie startete offiziell auf Solitude, in einem September. Also liegt es nahe, dort auch den Auftakt zu dieser anderen Landvermessung zu machen, mit einem Beitrag von Jean-Baptiste Joly, dem Direktor der Akademie Schloss Solitude. Es ist ein hintergründiger, chronistischer Blick auf „Das Septemberland“.
In den Geschichten, Reportagen, Essays oder Porträts zur Landvermessung, die wir in den nächsten Wochen und Monaten veröffentlichen, soll die Denkreise immer tiefer hinein in dieses Land gehen, das so stark von der Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen geprägt ist wie kaum ein anderes. Rebellisch und obrigkeitsgläubig, verhockt und weltoffen, reizend und räs, barock und postmodern, närrisch und todernst, spendabel und päb, rational und romantisch, blitzsauber und dunkel, verfilzt und sehr korrekt, rechtschaffen und wild, zockend und bausparsam, lyrisch und dramatisch – am Ende könnten es jubiläumsträchtig gar 60 verschiedene Eigenschaften sein, die in den Beiträgen zur neuen Landvermessung von Baden-Württemberg aufscheinen.