Landtagswahl Nordrhein-Westfalen: Gefühlsturbine mit Macht
Hannelore Kraft will bei der Landtagswahl in NRW wiedergewählt werden. Sie hat der erschlafften SPD ein neues Thema gegeben: die vorsorgende Sozialpolitik.
Jonny Sonntag ist achtzig Jahre alt und bebt vor Empörung. Er steht in der Fußgängerzone in Gütersloh und will schimpfen. Auf die Politik. In der Gütersloher Innenstadt gibt es dafür wenig augenscheinliche Gründe. Auf dem Markt kaufen Frauen mit geflochtenen Körben ein. Es gibt keine leer stehenden Geschäfte, anders als im Ruhrgebiet. Die Bürgerhäuser sind mit Jugendstilornamenten verziert. Es ist ein gemütlicher sonniger Aprilvormittag.
Aber nicht für Jonny Sonntag. Nicht seit Gerhard Schröder die SPD zerstört hat. „Putins Gasableser“, so nennt ihn Sonntag. Sein Großvater war Sozialdemokrat, sein Vater als Sozialdemokrat im KZ, all das hat Schröder verraten. Sonntag, hochgewachsen, laute Stimme, wirkt viel jünger als 80. Empörung hält offenbar frisch. Nie, nie, nie wieder wird er die Hartz-IV-Partei wählen. Es gibt viele wie ihn in Nordrhein-Westfalen, wütende Exsozialdemokraten.
Sonntag wartet auf Hannelore Kraft, die SPD-Ministerpräsidentin, die umschwärmt von einem Tross von Kameramänner, Fotografen, Journalisten, Bodyguards in Gütersloh einfällt. Ihre Leibwächter tragen keine schwarzen Sakkos und Sonnenbrillen, sie sehen aus wie Passanten. Kraft will das so, damit keine Distanz entsteht zwischen ihr, der Mächtigen, und dem Wahlvolk, das es nun zu treffen gilt.
Das TV-Duell: Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und ihr Herausforderer Bundesumweltminister Norbert Röttgen haben sich am Montagabend ihr einziges Live-Duell im Fernsehen geliefert. Hauptstreitpunkte in der Sendung im WDR waren die Themen Haushalt und Kinderbetreuung.
Die Quote: 740.000 Zuschauer sahen in NRW das Duell, Marktanteil 12 Prozent. Bundesweit lag der Marktanteil bei 3,3 Prozent mit 870.000 Zuschauern.
Die Neuwahl: Seit der Wahl 2010 regiert in Düsseldorf eine rot-grüne Minderheitsregierung. Am 14. März 2012 scheiterte der Haushaltsentwurf der Regierung. In der Folge löste sich der Landtag auf. Neuwahltermin ist der 13. Mai.
Die aktuelle Umfrage: Die SPD kommt auf 38 Prozent, die CDU auf 32 Prozent, die Grünen können mit 10 Prozent rechnen, die Piratenpartei kommt auf neun Prozent. Die FDP könnte mit fünf Prozent wieder in den Düsseldorfer Landtag einziehen. Die Linke ist mit vier Prozent draußen.
Die zweite TV-Debatte: Heute, am Mittwoch, gibt es eine weitere Fernsehdebatte im WDR. Kraft und Röttgen treffen auf die Kandidaten der Grünen, Piraten, Linken und FDP. (20.15 Uhr WDR Wahlarena 2012)
Hannelore Kraft trägt einen schwarzen Hosenanzug und einen grauen Wollmantel. Chic, aber unauffällig. Es ist ein Dresscode, mit dem sie störungsfrei Banker und Hartz-IV-Empfänger kontakten kann. Kein demonstrativ ausgestelltes Aufstiegssymbol, kein Gerhard-Schröder-Brioni-Outfit. Ich bin irgendwie eine von euch, das ist die Botschaft dieser Kleidung.
Sie lässt kein Kind zurück
Sie stellt sich auf eine improvisierte kleine Bühne und ruft: „Wir lassen kein Kind zurück, kein Kind.“ Sie rattert die Erfolge von Rot-Grün herunter: mehr Kitaplätze, die Studiengebühren abgeschafft, das dritte Kitajahr für Eltern kostenfrei. Mit der CDU hat sie den Kampf um die Schulpolitik beendet, was den Nebeneffekt hat, dass der CDU die Wahlkampfmunition ausgeht.
Noch immer „verlieren wir 20 Prozent jedes Jahrgangs“, die keinen Schulabschluss haben, ruft sie. Das müsse man ändern, auch wenn es Geld kostet. Mehr und frühere Förderung, das ist ihre Zauberformel. Das klingt pragmatisch, optimistisch, amerikanisch: Wir können es, wenn wir wollen. Es ist diese Rhetorik der Gemeinschaftlichkeit, die sie populär macht. „In der Bildungspolitik“, sagt ihr eine Passantin auf der Straße, „kann ich sie nur unterstützen.“ Sie ist CDU-Mitglied.
Vorsorgende Sozialpolitik, das war der Slogan der Schröder-SPD. Er war nur leeres Versprechen, das den rüden Abbau des Sozialstaats in rosa Licht tauchen sollte. Kraft hat die uneingelösten Versprechen entstaubt und mit einem Zusatz versehen: Das kostet. Behinderte und Nichtbehinderte in einer Schulklasse? Gute Idee, aber nicht umsonst. Die Sozialdemokratie à la Kraft sorgt nicht mehr von der Wiege bis zur Bahre für die Zeitgenossen, aber – in ihrem Selbstbild – von der Wiege bis zum (Hoch-)Schulabschluss.
Damit hat sie der orientierungslosen, von 40 Jahren Macht arrogant, korrupt und leer gewordenen SPD zwischen Rhein und Ruhr wieder eine Idee gegeben, eine sinnstiftende Erzählung. Niemand sonst, nicht Sigmar Gabriel, schon gar nicht Steinmeier oder Steinbrück, ist das gelungen. „Hannelore Kraft“, sagt SPD-Dissident Jonny Sonntag, „gefällt mir ganz gut.“ Nur wenige Politiker werden von CDU-Anhängern und wütenden Ex-SPD-Leuten geschätzt. 56 Prozent wollen sie als Ministerpräsidentin in Düsseldorf.
Eine Gefühlsturbine lässt Rosen regnen
Beim Straßenwahlkampf verteilt Hannelore Kraft Rosen an Passanten, herzt Bürgermeister, scherzt mit Vorbeigehenden, beruhigt hier einen Rentner, der klagt, dass in Gütersloh zu wenig Laternen leuchten, und jagt dort durch ein Ausbildungszentrum. Es ist ein enges, gehetztes Programm – doch Kraft wirkt wie eine Gefühlsturbine, die endlich in Fahrt kommen darf.
Im Berufsvorbereitungszentrum in Bielefeld sitzt Emanuel Kukovinos, ein Jugendlicher mit schwarzem Haar, auf dem Friseurstuhl und wartet, dass es weitergeht mit dem Haarschnitt. Da stürzt der Tross – Ministerpräsidentin, Mitarbeiter, Presse, Leibwächter – herein. Kraft sagt salopp: „Hamse keine Angst, wenn die noch gar nicht richtig Haare schneiden können?“ Kukovinos schaut verdutzt. Blitzlichtgewitter, Gelärme, Gedränge. „Nee, sieht ja gut aus“, sagt Kraft. Sie vibriert geradezu vor Energie und guter Laune.
Die verfinstert sich nur, als ein Ausbilder berichtet, dass ein Viertel der Jugendlichen zu spät komme. Wieso? Was machen sie dagegen?, fragt sie unwirsch. Der Ausbilder, ein ruhiger Fünfzigjähriger, gibt zu bedenken, dass zwischen 17 und 21 ein schwieriges Alter ist. Dass manche mit 17 schwänzen und mit 18, wenn sie eine Freundin haben, wiederkommen. Kraft gefällt das nicht. Sie will Erfolge hören. Leistung gegen Leistung. „Man muss früher fördern“, sagt sie halb zu sich, als wäre es eine Art Weltrettungsformel.
In Detmold klagt ein junger Mann, dass er Opfer einer Gesetzeslücke im Sozialsystem geworden ist. Das dauert. Es regnet. Kraft sagt: „Geben Se mal ihren Schirm“, und hält seinen Regenschirm, damit er die Zettel hervorkramen kann, die die Härte seines Falls beweisen sollen. Diese Geste des Beschützens und Beschirmens ist keine Berechnung. Es ist Instinkt. Etwas, das man nicht lernen kann.
Die Kraft - ein Produkt
Ist das echt, dieses Gesamtkunstwerk an Bürgernähe? Ist „Hannelore Kraft“ nicht ein kalkuliertes Produkt, clever inszenierte Authentizität?
Frau Kraft, machen Sie gerne Wahlkampf?
Ja. Man muss die Menschen mögen. Sonst soll man kein Politiker werden.
Wenn man diesen Satz liest, klingt er nach Marketing, Imagepflege. Gefühl statt Interesse. Durchsichtig. Wenn Kraft ihn nach Stunden des Straßenwahlkampfs sagt, klingt er wie etwas, das der Fall ist. Zehn Stunden immer angemessen reagieren, auf Rentner, Querulanten, Genossen, Honoratioren, Tanzgruppen, Journalisten.
Im Sekundentakt wechselnd, stets beobachtet von Kameras. Wer Menschen nicht mag, hält so einen Tag schlecht aus. „Die Leute“, sagt Kraft, „merken, wenn man ihnen wat vormacht.“ Das ist nicht Kitsch, eher unsentimentaler Pragmatismus, der typisch fürs Ruhrgebiet ist.
Eine bezahlbare Sozialpolitik
Wenn es gut läuft, bekommt die SPD in NRW 40 Prozent. Das wäre fast ein Wunder nach dem Zusammenbruch 2005, als Peer Steinbrück die Wahl verlor. Und es wäre ihr Erfolg, zum großen Teil. Den Nachweis, dass ihre vorsorgende Sozialpolitik bezahlbar und effektiv ist, muss sie noch erbringen. Aber schon jetzt stillt sie die Sehnsucht der SPD nach einer Identifikationsfigur – eine Aufsteigerin ohne die Aufsteigerarroganz, die die SPD von innen zerfressen hat.
Manchmal wird sie mit Angela Merkel verglichen, die auch in einer Krise ihrer Partei an die Macht kam. Eigentlich kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis sie in Berlin Merkel herausfordert. Auch weil die SPD-Troika in Berlin so trist wirkt.
Kurz vor Mitternacht sitzt Hannelore Kraft vor einem halben Glas Rotwein im Hotel Maritim in Bad Salzuflen und denkt nicht an Berlin, Washington oder Brüssel, sondern an Lemgo. „Das läuft nicht, wenn ich nur im Wahlkampf in Lemgo bin“, sagt sie. Will sagen: Sie wird hier gebraucht. Nicht in Berlin. „Berlin nimmt sich zu wichtig“, sagt sie.
Sie war dabei, als Kurt Beck 2008 als Parteichef am Schwielowsee zurücktrat und wundgeschossen und gedemütigt von den eigenen Genossen durch den Hinterausgang floh. Blass und wortkarg kam sie damals nach der Schlacht aus dem Tagungsraum am Schwielowsee. „Das war einer der schlimmsten Tage in meinem Leben“, sagt sie im Raum „Berlin“ im Hotel Maritim. Es war eine Lektion: So fühlt es sich an, wenn man aus der Provinz kommt und in der Hauptstadt an Intrigen scheitert.
Muss halt gucken, wie die Laune ist
Frau Kraft, hat die Macht Sie als Ministerpräsidentin verändert?
Nein. Vielleicht weil ich erst so spät in die Politik gegangen bin.
Sie erzählt von ihrer Familie, dem Reihenhaus in Dümpten, im Arbeiternorden von Mülheim an der Ruhr. Von den Nachbarn und von ihrem Mann, der halt gucken muss, wie ihre Laune ist, wenn sie nach Haus kommt. Das ist alles noch so wie immer. Den Einschnitt, sagt sie, gab es früher, als sie Abgeordnete wurde, später Ministerin. „Meine Leute würden mir sagen, wenn ich mich verändere“, sagt sie.
Man täuscht leicht in ihr. Ihre Offenheit verdeckt, dass sie einen Sperrriegel um ihr Privatleben gezogen hat. Sie ist distanzierter, auch misstrauischer, als es auf den ersten Blick scheint. Die Gruppe ihrer Vertrauten in Düsseldorf ist klein, sehr klein. Ich habe in der Politik keine Freunde, sagt sie.
Die Karriereleiter ist sie hochgestolpert, immer eher aus Zufall. Nie hat sie mit Eifer etwas angestrebt, die Ämter kamen zu ihr. Im Jahr 2005, nach dem Steinbrück-Fiasko, gingen Journalisten mit ihr die Namen durch, die SPD-Oppositionsführer werden könnten. Es gab keinen brauchbaren. Nur ihren. Ministerpräsidentin wurde sie 2010 nur, weil die Grünen sie drängten. Sie fand eine Minderheitsregierung zu riskant.
Hannelore Kraft schafft sich keine Gelegenheiten. Sie wartet auch nicht darauf. Doch wenn die Chance da ist, nutzt sie die. Falls sie je nach Berlin geht, wird es so geschehen. Wie unabsichtlich.
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