Lampenfieber besiegen: Klopf, klopf. Herein? Ist nur das Herz
Um manche Auftritte kommt man trotz Aufregung nicht herum. Was also tun? 79-prozentigen Alkohol einatmen, schielen und sich auf den Inhalt konzentrieren.
Fünf Tage vorher bekomme ich Durchfall. Dann Herzrasen, Schlafstörungen, feuchte Hände, Übelkeit. Sei es das Referat in der Uni oder die Rede auf dem runden Geburtstag von Opa, das Lampenfieber und ich haben schon viel miteinander durchgemacht. Dass die Zuneigung einseitig ist, hat das Lampenfieber bisher nicht gestört. Dieses Mal ist es eine Lesung. Und dieses Mal bin ich vorbereitet.
Christine Kostropetsch trägt bunte Kleidung und rollt das R auf bayerische Art. Sie ist Schauspiellehrerin in Berlin-Charlottenburg und hat bereits eine andere Autorin im Einzelunterricht, „das finde ich spannend“. In ihrer Altbauwohnung steht eine Pumpkanne mit heißem Wasser neben einem Teeschachtelturm. Ich entscheide mich für Ingwer-Zitrone. Dann sitzen wir uns gegenüber. Christine – „natürlich darfst du du sagen“ – hat weißblonde Haare und Augen wie ein Raubvogel, sie sieht aus, als könnte sie nichts erschüttern. Gut, denke ich. Genau das soll sie mir jetzt bitte beibringen.
Wie sich die Aufregung äußert, will sie wissen und zückt ihren Stift. Sterben will ich dann, sage ich. Sie zieht die Augenbrauen hoch, so schlimm, ja? Ja. Und: Ich habe Angst, in Ohnmacht zu fallen. „Unmöglich“, sagt Christine. „Da ist viel zu viel Adrenalin in deinem Körper.“ So einfach ist das also, eine kleine medizinische Tatsache entkräftet mal eben meine größte Sorge. Ich fange an, mich zu entspannen.
Gegen die restlichen Symptome helfe Klosterfrau Melissengeist, 79 Prozent Alkohol, gut für Kopf, Herz, Magen, Nerven. „Und man kann danach sogar noch reden, ohne zu lallen.“ Heimlich streiche ich den Prosecco von meiner Liste und ersetze ihn durch Melissengeist.
Liegende Acht
Bei der Lesung werden Familie, Freunde und Bekannte da sein. Ein Heimspiel, meine ich. Eine besonders schwierige Situation, meint Christine: „Es kann trotzdem immer sein, dass ein griesgrämiger Mann in der ersten Reihe sitzt, der eigentlich lieber Fußball schauen wollte. Wenn du dich davon irritieren lässt, bist du verloren.“ Um den Kontakt zum Publikum herzustellen, gleichzeitig aber auch die notwendige Distanz, soll ich mir eine liegende Acht vorstellen, die mich und die Zuhörer umrahmt. Im Kopf fahre ich die Strecke entlang, mir wird schwindelig.
Außerdem sei es ganz wichtig, sich den Raum vorher anzuschauen. Mehr noch: Ich soll ihn erfühlen. Schielend laufe ich durchs Zimmer, bleibe in der linken Ecke stehen. Warum da? „Fühlt sich richtig an.“ Christine nickt.
Nächster Punkt: Die Begrüßung üben. Ich gehe raus, ziehe die Tür hinter mir zu, öffne sie, komme rein, schwitze. „Hallo“, piepse ich, es hört sich an wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Noch mal, bitte. Meine Ohren sausen, dabei stehe ich nur vor einer Person. „Ich bin ja auch streng“, sagt Christine. Also gut. Tür zu, Tür auf, drei Schritte, Blick ins Publikum, Boden unter den Füßen spüren. Herzlich Willkommen, ich freue mich, dass Sie heute Abend hier sind.
Puh, bin ich aufgeregt
Während ich spreche, merke ich, wie mir meine Gesichtszüge entgleiten. Es sei besser, seine Nervosität zu thematisieren, als sie krampfhaft zu verstecken, sagt Christine. „Wenn du aufgeregt bist, spüren die Zuhörer das eh. Das ist für beide Seiten unangenehm.“ Wir üben den Satz: Puh, bin ich aufgeregt, das ist meine erste Lesung. Was ich dadurch erreiche? „Allein durch das Aussprechen wird die Aufregung weniger. Und das Publikum entspannt sich, fühlt mit, was wiederum eine positive Rückkopplung für dich ist.“
Wo sind bloß unsere Intellektuellen? Die Titelgeschichte „Auf der Suche nach Adorno“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 29./30. Juni 2013. Darin außerdem: „Die verneinte Idylle“: Eine Fotoreportage über sterbende Dörfer. Und der Streit der Woche zur Frage: „Stuttgart, Rio, Istanbul: Schafft Wohlstand Protest?“ Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Als ich schließlich anfange zu lesen, stoppt mich Christine nach zwei Sätzen. „Ich habe kein Wort verstanden.“ Ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Dafür habe ich mich viel zu sehr auf meine Aussprache und mein klopfendes Herz konzentriert. „Falsch, der Inhalt muss rüberkommen“, sagt Christine. Und noch etwas: Ich soll ausatmen, bevor ich anfange. Erstaunlich: Da ist immer noch genug Luft für den ersten Satz übrig. Ergebnis: Die Stimme klingt ruhiger.
Am Tag der Lesung hält sich die Aufregung in Grenzen. Kurz vorher atme ich fünf Milliliter Melissengeist ein, dann atme ich nur noch aus, schaue ins Publikum, ermahne mich zur Langsamkeit. Dass ich die liegende Acht vergesse – geschenkt. Das Publikum geht mit, lacht an den richtigen Stellen, und ich verspüre ein merkwürdiges Gefühl: Spaß.
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