■ Lambsdorff und die große Koalition der Verzagten: Es riecht nach 1999
Was bei Kindern das Pfeifen im Walde ist, ist bei Politikern der pathetisch gebrauchte historische Vergleich – Ausdruck der Angst und des Ausgeliefertseins, hilfloser Versuch, das Unheimliche zu bannen. „Bonn ist nicht Weimar“ ist so ein Ausdruck des Pfeifens im Walde. Oder: „Wehret den Anfängen!“ Oder jetzt die Warnung des FDP-Vorsitzenden Graf Lambsdorff: „Es riecht nach 1966.“
Soviel steht fest: Der Mann spürt und hält es für die unangenehme Störung eines Sinnesorgans. Und weil es ihm stinkt, sucht er nach einem drastischen Vergleich ähnlich unangenehmer Erfahrungen in der eigenen Erinnerung. Fündig wird er in der winzig kleinen Zeitspanne, in der die FDP einmal nicht an der Bonner Duftnote beteiligt war: 1966 bis 1969, die kurze Zeit der großen Koalition.
Ach, wäre es doch so – der Graf könnte mit Anstand seinen Abschied nehmen, der Zuschauer könnte sich beruhigt im Fernsehsessel zurücklehnen. 1966 bis 1969 war kein Drama, bundesrepublikanisch betrachtet, sondern ein Übergang. Ein Übergang zu einer Phase großer gesellschaftlicher Aufbrüche. Alle haben damals davon profitiert – sogar die nur kurz machtabstinente FDP.
Was aber jetzt die Politiker verunsichert, ist nicht ein Geruch überm Land, sondern die Vorahnung eines Erdbebens anderer Art. Man muß nur nach Italien oder Frankreich gucken, um zu begreifen, daß das traditionelle Parteiengefüge in ganz Europa ins Wanken kommt. Die wachsende Zahl der Nichtwähler, das blitzartige Anwachsen der rechts- und linkspopulistischen Bewegungen, das alles unter dem Aspekt einer dramatischen wirtschaftlichen Rezession und des Außendrucks von Völkerwanderungen und Flüchtlingsströmen – das sind die Vorboten der heutigen tiefgreifenden Verunsicherung. Es riecht nicht nach 1996 – es riecht nach 1999.
In einem aber hat Lambsdorff recht: In einer solchen Situation ein Allparteien-Regime zu praktizieren, wie wir es derzeit erleben, potenziert die Schwindsucht der Politik. Eine permanente „große Koalition der Verzagten“ macht die schwierige Lage nur noch unübersichtlicher. Was und warum sollten die Menschen wählen, wenn es nichts zu wählen gibt, wenn Regierung und Opposition gar nicht mehr konzeptionell oder personell unterscheidbar sind? 1966, das war eine Krise der Regierung und eine Chance für die Opposition, die auch wirklich an die Macht wollte. 1999 – das steht für eine Krise der Politik überhaupt und dafür, daß die Menschen jedes Vertrauen verloren haben, daß die anstehenden Probleme überhaupt noch politisch zu lösen sind. Antje Vollmer
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