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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEF

Leistungen zum Billigtarif

■ betr.: „Die Preise werden mit den Jahren steigen“, Interview mit Finanzsenator Ulrich Nußbaum, taz vom 23. 7. 11

Sehr geehrter Herr Nußbaum, Ihre Aussagen werfen viele Fragen auf. Ich kann weder Ihre Kritik noch Ihr Anliegen und schon gar nicht Ihr Sparprogramm nachvollziehen. Was meinen Sie mit Ihrer Forderung, freie Träger sollten „effizient“ und „wirtschaftlich“ sein? Welche konkreten Ergebnisse erwarten Sie und wie wollen Sie diese messen? Was verbessert sich aus Ihrer Sicht, wenn Sie Mittel kürzen, und warum sollte deshalb die Transparenz besser werden? Ich habe von Ihnen keinerlei inhaltliche Argumente gelesen, kein Wort dazu, was Sie konkret für die betroffenen KlientInnen erreichen möchten.

Auch ich sehe die Trägerlandschaft kritisch. Organisationen entwickeln ihre eigene Logik und neigen dazu, sich selbst in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten zu stellen und diejenigen, um die es eigentlich gehen sollte, zunehmend als Mittel zum Zweck zu benutzen. Aber das wird sich durch Mittelkürzungen nicht ändern, eher im Gegenteil. Die Leidtragenden werden die Beschäftigten sein, die an der Basis oft mit viel Engagement mit den KlientInnen arbeiten. Wenn deren Gehälter gekürzt und Arbeitsanforderungen erhöht werden, geht dies zulasten der Klientinnen, es kommt also immer weniger Leistung „bei den Bedürftigen“ an. Grundsätzlich finde ich es problematisch, wenn jemand in Ihrer Position solch schwerwiegende, aber allgemein gehaltene Vorwürfe erhebt, ohne zu differenzieren.

Ihre Aussage, dass Sie die Sozialwirtschaft nicht fördern möchten, steht für mich in deutlichem Widerspruch dazu, dass das Land Berlin Mitglied ist bei REVES, dem Europäischen Netzwerk der Städte und Regionen für Soziale Ökonomie. Wirtschaftssenator Harald Wolf betonte auf der Europäischen Konferenz „Sozialökonomie – ein Wirtschaftsfaktor“ am 6. Mai 2010 im Berliner Rathaus, dass sich die Wirtschaftspolitik noch wesentlich intensiver mit der Sozialökonomie beschäftigen und die Bedeutung des Sektors auch der Öffentlichkeit stärker bewusst machen müsse. Zu Ihrer Information weise ich noch darauf hin, dass die Sozialwirtschaft weit mehr Wirtschaftsbereiche umfasst als nur soziale Träger und Beschäftigungsgesellschaften. Der Verband Social Economy Europe zählt dazu alle Vereine, Genossenschaften und Stiftungen, sowie weitere Unternehmen, die entsprechend der Charta des Verbandes wirtschaften. Diese zielt auf die Vorrangstellung des Individuums vor dem Kapital, auf soziale Verantwortung, Freiwilligkeit und demokratische Kontrolle sowie gemeinnützige Gewinnverwendung. Im Bereich der sozialen Träger und Beschäftigungsgesellschaften werden diese Anforderungen in der Tat häufig nicht erfüllt. Freiwilligkeit ist kaum möglich, wo Menschen von Arbeitsagenturen oder Jobcentern disziplinierend in Maßnahmen zwangszugewiesen werden.

Und solange die demokratische Kontrolle im kleinen Kreis eines Vereins oder gar einer gemeinnützigen GmbH verbleibt, ohne die Beschäftigten und Klientinnen einzubeziehen, kann von Transparenz und Demokratie nur sehr begrenzt die Rede sein. Solche strukturellen Probleme beheben Sie aber nicht mit finanziellen Restriktionen. Statt dessen müssten diese Einrichtungen demokratisiert oder neue, selbstverwaltungsfähig gestaltete Organisationen geschaffen werden, in denen die direkt Betroffenen demokratische Mitentscheidungsrechte und faktische Mitgestaltungsmöglichkeiten haben.

Erst wenn nicht die einen den anderen paternalistisch Gutes tun, sondern die Betroffenen selbst entscheiden, was sie benötigen, und von wem und auf welche Art sie dies bekommen möchten, ist sichergestellt, dass die Hilfe aus öffentlichen Mitteln dort ankommt, wo sie hinsoll. Qualitativ hochwertige soziale Leistungen sind nicht zum Billigtarif zu haben. ELISABETH VOSS, Berlin