Kurt Scheels Lichtspiele: Sein und Schein
■ Zauber auf Irrwegen: Über das sehr offene Geheimnis des Zirkusfilms
Müssen Sie auch immer im Zirkus weinen? Am Anfang und am Schluß, bei den Paraden, da fließen die Tränlein, daß Gott erbarm'. Und ich klatsche, bis meine zarten Hände rot glühen, denn meine Mutter hat mich gelehrt: Beifall ist der schönste Lohn für den Künstler.
Ich spreche vom ehrlichen Zirkus, Artistik und so. Am besten kann es der Chineserer, klein und zart, wie er ist. Der Russ' ist auch sehr gut, aber wenn er Bären in Schlittschuhe steckt und Eishockey spielen läßt, wird uns verweichlichten Tierfreunden etwas blümerant.
Unehrlicher Zirkus ist der Streichel- oder Blümchenzirkus, „Poesie“, Weißclowns etc.: der verhellerte. Aber vielleicht liegt solch harsches Urteil an meiner mentalen Verrohung. Nicht diskutabel jedoch erscheint mir Zirkus im Kino: Das ist, womöglich in bester Absicht!, ein Irrweg. Und warum? Weil die Filme so schrecklich simpel sind und sich vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen, daß sie uns das Allerneueste um die Ohren schlagen: den Gegensatz von Sein und Schein. Aber sind die Clowns denn nicht wirklich durch die Bank Melancholiker und Fieslinge? Verbirgt sich hinter der Schwerelosigkeit, mit der die Vier Corellis durch die Zirkuskuppel fliegen (nein, Herr Kluge, alles andere als „ratlos“), nicht tatsächlich viel Arbeit, Müh' und Plag'? Ist das Leichte, wie Tucholsky eindrucksvoll stöhnte, nicht das Schwerste, gerade in Deutschland? Aber ja. Doch muß man dies höflich und diskret sagen, nicht so rechthaberisch-triumphal wie der Zirkusfilm. Außerdem hassen wir es, wenn man uns für dümmer hält, als wir sind. Denn den Gegensatz von Sein und Schein, Arbeit und Kapital, Bürger und Künstler kennen wir, recht eigentlich gehört das seit Jahrhunderten zum Abgeschmacktesten, Herr Thomas Mann: Tonio Kröger und Hans Hansen, pfui!
Da nützt es nichts, wenn geliebte Stars mitspielen, die uns sonst die Stupidität des Genrefilms vergessen lassen: James Stewart und Charlton Heston in „The Greatest Show on Earth“, Burt Lancaster, Tony Curtis und Gina Lollobrigida in „Trapeze“. Selbst John Wayne in „Circus“ bleibt eindimensional, nichts von seiner üblichen Subtilität und Subversivität – das eherne Idiotengesetz des Zirkusfilms hält auch ihn in Eisen.
Amerika, Hollywood!, sagen Sie jetzt. Aber auch Freddy Quinn in der alteuropäischen Version ist gescheitert. Vergleichen Sie Meisterwerke wie „Freddy unter fremden Sternen“ oder „Freddy, die Gitarre und das Meer“ mit „Freddy, Tiere, Sensationen“: kein Vergleich. Ja gut, Freddy sieht sehr hübsch und lecker (Brusthaare!) aus im silberweißen Trapezlerdress, und wenn er die gestohlenen Pläne der ultimativen Trapeznummer wieder herbeischafft und den elterlichen Zirkus somit vor dem Untergang bewahrt, das hat was. Aber ist es mehr als „volkstümliche Unterhaltung mit viel Gesang, Rührseligkeit und Artistik“, wie das katholische „Filmlexikon“ schneidend resümiert? Beim Filmegucken, das ist jedenfalls meine Ansicht, muß das Gehirn doch immer ein bißl dabeisein.
Ist denn „Circus“ nicht der all-erschrecklichste der Chaplin-Filme? Oder Jerry Lewis, lappt dessen immer schwer erträgliche Sentimentalität in „Three Ring Circus“ nicht geradezu ins Verlogene (ja, „Hollywood Or Bust“ ist toll)? Und selbst die Marx Brothers, sind sie in „At the Circus“ nicht unter ihrem Niveau (Mr.Halliwell: „This film began the decline of the Marx Brothers“), trotz Grouchos wunderbarem Lied über „Lydia, the tattooed lady“? Jetzt kommen Sie mir nicht mit „Lichter des Varietés“ und „La Strada“! Erstens ist Varieté nicht Zirkus, und zweitens ist „La Strada“ kein richtiger Zirkusfilm. Andersrum wird ein Schuh draus: Diese Zirkusmusikanten-Schlußsequenz in „8 1/2“ ist zweifellos abscheulich („poetisch“), ebenso wie die gräßlichen Gaukler in „Blow up“ – was für ein Gaunerfilm (wie so vieles von Antonioni)!
Merke: Wenn Clowns oder Zwerge durch den Film laufen (Bergmans „Schweigen“, Herzog!), ist etwas oberfaul (Tom DiCillos „Living in Oblivion“ macht sich wunderbar darüber lustig), und so wollen wir Intellektuelle, wir Sein-und-Schein- Entlarver, uns in Zukunft von abgreiferischen Regisseuren und ihrem Zirkusschaum nicht mehr einseifen lassen.
Das große Gegenbeispiel zu meiner hübschen kleinen Theorie ist W.C. Fields „You Can't Cheat an Honest Man“, aber Fields ist so ein Misanthrop, daß die Schleimigkeit selbst dieses Genres an seiner Gemeinheit und Herzlosigkeit zerbröselt. Um diese Sein-Schein-Sache endlich auf den Punkt zu bringen: George Burns, der nicht zufällig den lieben Gott gespielt hat (er soll sehr angetan gewesen sein), hat gesagt: Schauspielerei ist nichts anderes als Wahrhaftigkeit. Wenn man das vortäuschen kann, hat man's geschafft. Kurt Scheel
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