Kunstquartier Venedig: Völkerverbindende Marschrichtung
■ Alle Künstler sind proportional – nur manche sind proportionaler
Der offizielle Reader zur Biennale hat 737 Seiten. Der Katalog über die Geschichte der Wiener Gruppe ist bald doppelt so dick und um die Hälfte schwerer als der Schuber mit vier Büchern, den die Griechen verteilt haben. Wieviel wiegt also der Koffer? Schon beginnt man panisch nachzurechnen, ob sich die über den Tag gierig zusammengeraffte Masse morgen wohl unauffällig als Handgepäck in die liebe kleine Propellermaschine wird schleusen lassen. Aber die Damen nehmen ja schließlich auch ihren Schminkkoffer mit an Bord.
Überhaupt ist die Biennale ein Kunstfestival, bei dem ständig auf- und ab- und nachgewogen werden muß. Schließlich hat man von der Benachteiligung aller Rassen, Klassen und Geschlechter gelernt. Die USA zeigen Gemälde des Afroamerikaners Robert Colescott, über dessen heitere Konfliktbewältigung zwischen Schwarzen, Weißen und Latinos einige betagte New Yorkerinnen schier aus dem Häuschen geraten. Die Skandinavier haben sich als Integrationsfigur eine Japanerin eingeladen, die animierte 3-D-Filme zeigt, in denen sie als Prinzessin aus einer fernen Dynastie durch Op-art- Landschaften schwebt. Mit dem Vorwurf virtueller Exotik ist diesem hippiesk gestalteten Computerprogramm kaum beizukommen, schließlich hat Mariko Mori am Londoner Chelsea-College studiert, bevor sie als Gast des Whitney Museums ein Jahr in New York war. Im australischen Pavillon wiederum sind allerlei Kreisbilder von Aborigines zu sehen. Damit der Rekurs auf Mythen und Rituale nicht als ausgebeutete Folklore gedeutet werden kann, wurde zusätzlich eine Fotoausstellung eingerichtet, in der Australiens Ureinwohner beweisen dürfen, daß sie auch mit neumodischer Technik umzugehen wissen, wenn sie nicht gerade ihre Kreise malen.
Die völkerverbindende Marschrichtung hatte zuerst Germano Celant mit seiner Präsentation von „Future, Present, Past“ vorgegeben: Alle Beteiligten, so der Biennale-Chef vorab im Interview, bekommen gleich viel Platz in einer Halle ohne Raumteiler zur Verfügung gestellt, denn zeitgenössische Kunst ist „eine unendliche Galaxie, die man als Ganzes nicht mehr fassen, sondern nur noch steuern kann“. Schließlich hat Celant doch eine Ausnahme machen müssen. Der New Yorker Maler Julian Schnabel durfte sich 400 Quadratmeter Fläche für eine Serie mit Exotika-Comics aussuchen – das Vierfache der restlichen 60 KünstlerInnen, die sich jetzt über ihre Leichtgläubigkeit ärgern.
Aber was sind schon kleinliche Gebietskämpfe gegenüber den großen Entwürfen, wie sie im deutschen Pavillon erscheinen. Gerhard Merz etwa hat den Zentralraum bis zur Decke mit Spanplatten versiegelt und den kargen Bühnenzauber mit einem Fries aus Neonröhren flankiert. Jetzt steht die leere Halle als Sinnbild für „die Sache selbst“, während man vom Durchgang aus im linken Seitenflügel Katharina Sieverdings ebenfalls prophetisch gemeinte Schädel, Viren und Chromosomenketten sehen kann. Ihre sauber fotografierten Blow-ups sind „innere Bilder, welche Erkenntnis begehren – und das heißt heute: des Furchtbarsten“, wie Gudrun Imboden, die deutsche Pavillon-Kuratorin, ein wenig hilflos unter der Zirkuskuppel des Erhabenen dichtet.
Für Merz war das Furchtbarste übrigens der Katalogbeitrag von Beat Wyss. Der in Bonn lehrende Kunstprofessor, der selbst gern mal ins Geisterhafte abdriftet, hatte darin Merzens Raumintervention irgendwo zwischen Duce-Architektur, Heimwerkerästhetik und Heideggers Holzwegen herumschweben lassen. Das war dem Künstler, der in seinem grauen Investment-Look wie eine Mischung aus Charles Laughton und Ulrich Greiner ausschaut, denn doch zuviel der Dekonstruktion, selbst für weiße Räume. Er lehnte den Text ab. Daß ihn die Süddeutsche Zeitung ausgerechnet am Mittwoch gedruckt hat, wird Merz wahrscheinlich die Eröffnung verdorben haben. Er gilt ja aus gutem Grund als Perfektionist. Harald Fricke
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