Kunstfestival in Brügge: Im Ei des Tourismus
Die Kunsttriennale versucht die touristengeflutete mittelalterliche Stadt mit der Migration des 21. Jahrhunderts zu konfrontieren.
Puuuh, endlich Luft. Außerhalb der Innenstadt, keine zehn Minuten weg von den Touristenmassen: diese Ruhe inmitten von duftenden Kastanienalleen und mächtigen Rotbuchenwäldern. Ein lauschiger Radel- und Wanderweg führt hier lang. Das ist der äußere Kanal, der das eiförmige alte Brügge sozusagen als Schale umschließt. Hier joggen die Einheimischen, atmen durch, flanieren.
Ja, Brügge ist eine Pracht. Sagen alle. Das Stadtzentrum ist chic renoviertes Mittelalter. Museen drängeln sich in Prachtbauten, dazwischen überall Grachten, Kanäle, kleine Gassen. Das „Venedig des Nordens“. Eine zauberhafte Stadt.
Wenn das nur nicht so viele Menschen dächten: Jedes Jahr schieben sich 5,3 Millionen BesucherInnen durch die Stadt, im Sommer wie bei einer endlosen Prozession. Übernachtungen: über zwei Millionen, und das bei gerade mal 22.000 Einwohnern im Zentrum. 1877 wurde das „Haus am Roten Stein“ als erstes mit öffentlichen Mitteln restauriert. Das war der Anfang. Heute ist die gesamte Innenstadt Unesco-Weltkulturerbe. Eine Megacity des Tourismus. Und jetzt gibt es ein Lockmittel mehr: die Triennale für zeitgenössische Kunst und Architektur kreuz und quer im Stadtraum.
Vorgabe: Was, wenn alle fünf Millionen Besucher hier plötzlich bleiben wollen?! Die Triennale, sagt Kurator Michel Dewilde, wolle Fragen aufwerfen „nach der Zukunft aller Städte, des Lebens überall“. Gleichwohl fand er es erst „völlig verrückt“, moderne Kunst „in das geschützte Weltkulturerbe einzubasteln“. BRUGGE liest sich, passend zur realen Form, von hinten als englisches Anagramm EGG URB – Eistadt. Die Triennale will dieses Ei von innen aufbrechen. Ziel: „Decodierung der urbanen DNA“.
Triennale: Die Ausstellung zeitgenössischer Kunst und Architektur findet bis zum 18. Oktober statt, triennalebrugge.be.
Chocolatiers: Es gibt mindestens 50 in Belgiens Geschmackshauptstadt, dazu ein paar Marzipan-Manufakturen. Süßkram-Connaisseure werden glücksirr vor den Auslagen der Geschäfte.
Frittenmuseum: nur in Brügge: frietmuseum.be. Das Karmeliet ist eines der drei Dreisternerestaurants in Belgien. In der Küche (dekarmeliet.be, Menus ab 85 Euro) stehen drei Fritteusen bereit, denn auch Sterneköche zaubern in Belgien scheinbanale Pommes frites und reflektieren über Fettmischungen und Schneidetechniken, Tricks der Garvorgänge, Kartoffelsorten, über kulinarisch optimierte Stäbchendicke und die schwierige Kohabitation der chemischen Feinde Fett und Wasser.
Durchsichte Gebäude
Achtzehn international renommierte Künstler und Architekten haben die Kulturhauptstadt Europas 2002 seit Ende Mai mit teils kühnen Werken bestückt. Dazu kommen diverse ergänzende Themenausstellungen um imaginäre Städte und berühmte Stadtpläne. Immer in scharfem Kontrast zwischen der schönen Illusion von einer Mittelalter-Zeitreise und der toughen Wirklichkeit woanders. Herausgekommen ist ein Parcours mit Unterhaltungsfaktor und, wie Künstler sagen, Potenzial für Transformation: zum Umdenken und zur Veränderung.
Der Japaner Tadashi Kawamata etwa hat in den weiten Binnengarten des Beginenhofs zehn hellholzige Baumhäuser gebastelt – sie wirken wie poetische Nester, Verstecke, Notunterkünfte. Woanders liegt ein abgeknickter rot-weißer Hochspannungsmast in der Gracht. Den Israeli Roma Achituv verstört Brügges „eingefrorener Charakter“; er will sie mit der künstlichen Stromschnelle „Cataract Gorge“ wieder auftauen. Und so tanzt ein Giebelhaus aus Spanplatten durch den Kanal. Auf dem Marktplatz lockt eine verspiegelte Installation ins Innere – jeweils einen Einheimischen und einen Besucher zum intimen Dialog. Der Chinese Song Dong hat ein durchsichtiges Gebäude aus bunten Fenstern gebaut – allesamt Original-Abrissteile des alten Peking. Das schrille Gebilde steht kontraststark vor der Kathedrale.
Brügge hatte seit dem 13. Jahrhundert die erste Börse Europas; benannt nach der Kaufmannsfamilie van der Beurse. Mit 500 Kilogramm Schokolade hat der Österreicher Rainer Ganahl das mittelalterliche Börsengebäude auf drei Meter Höhe nachgegossen. Oben dreht sich der Werbeslogan „Uber Capitalism“. Diese Botschaft solle, sagt Ganahl, Assoziationen wecken zum Begriff „Übermensch“, zum Scheintaxidienst Uber, der Menschen zu App-Unternehmern mache, und eben etwas über den Kapitalismus erzählen.
Passanten schnuppern und knabbern am verführerischen Knusperhäuschen, dessen Schokolade ungesüßt ist, damit sie nicht so schnell weggefuttert wird. Schokolade, sagt Ganahl, sei eben „ein typisches Kolonialprodukt“. In Brügge wird mit Edelpralinés heute Umsatz satt gemacht, die meisten der bitterarmen Kakaobauern in Südamerika und Afrika haben noch nie in ihrem Leben Schokolade gekostet.
Monokultur Mittelalter
Ja, sagt Bürgermeister Renaat Landuyt, dank der Triennale kommen wohl noch mehr Leute in die überfüllte Stadt. Aber er will „nicht nur Schokolade-Touristen“, sondern „Kultur, Kunst und Tourismus enger zusammenführen“. Zunehmend, klagt er, fragten Kreuzfahrt-Unternehmen, die im Stadthafen Zeebrügge Station machen, nach Kurztrip-Arrangements. „Wir wollen lieber mehr Übernachtungstourismus mit größerer Verweildauer.“
Es gibt in Brügge kaum bunte Reklame und meist nur kleine Hinweisschilder, ob privat oder öffentlich. Neubauten im Stadtkern, auch Hotels, sind nicht mehr erlaubt. Symbole der Kommunikationsgesellschaft wie Dachantennen, Mobilfunkmasten, Satellitenschüsseln sind untersagt – „und wir sind da sehr streng“, sagt Bürgermeister Landuyt. Autos indes lärmen auch in Brügge noch viel zu viele. Der großartige Stararchitekt Jan Gehl, 68, aus Kopenhagen (“Städte für Menschen“) hat sich beim Eröffnungsvortrag der Triennale tosenden Applaus abgeholt: „Kaum dass Autos erfunden waren, haben sie als Invasoren unseren Lebensraum erobert. Wir müssen unsere Innenstädte ganz neu denken.“
Innerhalb Belgiens wird Brügge beneidet – und belächelt: weltfremd, selbstvergessen, vorgestrig. Immerhin, so der Spott, die Stadt habe auch montags geöffnet – anders als andere Museen. Die Monokultur Mittelalter vertreibt junge Leute: Brügge ist eine Stadt ohne Clubs, ohne Disko, ohne Hochschule. Wer bleibt, profitiert – und stöhnt ob der Besuchermassen. Unter Heidelbergern war in den 80er Jahren der Sticker modern „I am not a tourist. I live here“. In Brügge hat ein Künstler diesen Anstecker entworfen: „Hilfe – ich bin der fünfmillionste Tourist dieses Jahr.“
Nach dem zweiten Leffe brune stellt man sich, sinnend am beschaulichen Außenkanal, die ganz große lebende Triennale-Installation vor: eine Armada dümpelnder Schlauchboote, überfüllt von Besucherhorden, die, angetrieben von den Schlepperbanden internationaler Touristikkonzerne, an Land wollen. Berittene Garden lanzenbewaffneter Rittersleut (“Frontex der Frühzeit“) halten sie gnadenlos ab. Grotesk fette Havaristen im Hawaiihemd planschen im Wasser um ihr Leben, Kinder jammern nach Rettung und Schokoladeneis. „Gold Guides Me“, die riesige Leuchtskulptur der norwegischen Künstlerin Anne Senstadt am Dampoort im Norden der Stadt, könnte die Szenerie nachts prächtig illuminieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind