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Archiv-Artikel

Kunst, die auf die Straße führt

Die Galerie parterre zeigt Antiobjekte der Münchner Avantgardegruppe Geflecht, die 68 in der Studentenbewegung aufging

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

Das „Große Antiobjekt“ der Gruppe Geflecht wuchs langsam. In Analogie zu naturhaften Wachstumsprozessen war ein abstraktes Raumknotengeflecht aus Draht und Eisen im Wechselspiel mit Malerei entfaltet worden. In freier Verbindung mit anderen Formkeimen wucherte es in mehrwöchiger Gruppenarbeit schließlich zum Antiobjekt zusammen. In der Gruppenausstellung „Labyrinthe“, die in der Berliner Akademie der Künste stattfand, war dieses Produkt eines kollektiven Entstehungsprozesses 1966 zu sehen.

Heute ist diese große (460 x 230 x 95 cm) Arbeit leider nicht mehr erhalten. Zahlreiche kleinere Antiobjekte bilden dafür den Kern einer Retrospektive, die derzeit in der Galerie parterre gezeigt wird. Diese Antiobjekte resultierten 1965 als originärer Wurf aus dem Zusammenschluss der Gruppen Spur (1957–1965) mit Lothar Fischer, Heimrad Prem, Helmut Sturm und HP Zimmer und Wir (1959–1965) mit Hans Matthäus Bachmayer, Reinhold Heller, Florian Köhler, Heino Naujoks und Helmut Rieger. Sie zählten in den 60ern zur Münchner Lokalavantgarde.

Während der vordere Raum der Galerie gänzlich von den Antiobjekten belegt ist, werden in den hinteren Räumen zahlreiche Arbeiten gezeigt, die den Weg zu Geflecht dokumentieren und zugleich als Vorarbeiten für die späteren Antiobjekte gelesen werden können. Fast alle hier versammelten Einzelarbeiten drehen sich um das Thema. Mit dem Auto wurde ein alltägliches Sujet gewählt, an dem sich mögliche Varianten des Gestaltungsprinzips der Schichtung und Verflechtung durchspielen ließen und von dem zugleich eine Provokation der Konsumgesellschaft erhofft wurde. „Wir waren der Ansicht, dass es einen Aufschrei gäbe, sobald das Auto nicht mehr so aussähe wie das, das der gute Bürger am Wochenende poliert“, beschreibt ein Gruppenmitglied die Wahl im Ausstellungskatalog.

Die Formen aus farbigen Spiralgebilden sind nicht nur als Kunst, sondern auch als Verkörperung einer sozialen Form in einem nichtstatischen und nichtautoritären Raum gedacht gewesen. Als Ausdruck der Utopie einer neuen Kunst, die sich gegen bildimmanente Hierarchien und konventionelle Gestaltungsprinzipien richtete und die Gemeinschaftsarbeit zelebrierte, bildete der Ansatz von Geflecht im Nachkriegsdeutschland eine radikale politische Aussage. Aus heutiger Sicht lässt sich die damalige Sprengkraft nur noch erahnen. Das Mitwirken einer Frau in einer Männergruppe würde aber hoffentlich nicht mehr verschwiegen werden. Renate Bachmayer, die damalige Frau von Hans Matthäus Bachmayer, wurde von der Männergesellschaft nie offiziell aufgenommen, obwohl sie in gewisser Hinsicht engagierter als manches Gruppenmitglied war.

Auch lässt sich die Tendenz der Antiobjekte zum Dekorativen nicht übersehen. Sie waren zwar nie als statische ästhetische Objekte gedacht, in ihrer Präsenz zeigen sie sich aber als singuläre Produkte. Die Geflechtkunst wurde deswegen bereits zu ihrer Zeit angegriffen: „Ihr habt einen Stil gefunden, der wie alle Stile der letzten Zeit zu harmonisch ist, in sich und unerträglich für den nach eigener Freiheit dürstenden Menschen. Man kann ausrufen, toll, wenn man die Dinger sieht. Aber man bleibt innerlich kalt“, bemängelte Heimrad Prem 1966.

„Aus der Traum? Künstlerische Ausbrüche und Reflexionen seit 68“ hat die Galerie parterre ihre dreiteilige Ausstellungsreihe betitelt, die am Ende mit dem Projekt „Vollendet Zukunft“ aktuelle künstlerische Blicke auf gesellschaftliche Utopien den Pionieren gegenüberstellen wird. Die Männer von Geflecht hatten verstanden, dass Kunst im Kampf um Macht und Freiheit ein guter Vorwand sein kann: Das Künstlerkollektiv löste sich in der Studentenbewegung auf, an der fast alle Mitglieder teilnahmen. 1968 glaubte man mit Kunst nicht mehr viel bewirken zu können und sah seine Aufgabe im Protest auf der Straße.