Annabelle Hirsch Air de Paris: Frankreich wirkt aus der Ferne gesehen ganz schön verrückt
Es heißt ja oft, mit Abstand sehe man die Dinge klarer. Wenn sich die Gedanken verknoten, wenn man nicht mehr weiß, ob man vor oder zurück, nach rechts oder nach links laufen oder vielleicht einfach stehen bleiben soll, nicht mehr sicher erkennt, was richtig und was falsch ist, dann sagen die Leute einem oft diesen irgendwie unsympathisch selbstgewissen, aber nicht ganz falschen Satz: „Nimm erst mal Abstand, dann siehst du klarer.“
In manchen Bereichen stimmt das auch. In der Liebe zum Beispiel relativiert sich mit Abstand einiges. In anderen Bereichen allerdings ist er sinnlos, ja sogar kontraproduktiv. Etwa wenn es um Frankreich geht. Dann sieht alles, was schon von innen oft haltlos hysterisch, ultraaggressiv, vollkommen irrational und kaum noch durchschaubar scheint, aus der Ferne noch viel schlimmer aus: Nämlich wie ein immer schneller um sich selbst drehender Kosmos des Wahnsinns. Wie ein von Ressentiments und Angst genährtes Gezänk. Wie ein Bar-Tresen, an dem nur noch Besoffene sitzen, die sich vor lauter Rumgelalle nicht verstehen und deshalb einfach mit den Bierflaschen aufeinander losgehen. Vielleicht trifft dieser Eindruck auf jede Gesellschaft zu. Vielleicht wirkt alles, was von innen wirr, aber irgendwie noch greifbar scheint, von Weitem beängstigend radikal. Bei Frankreich auf jeden Fall ist es so.
Jedes Mal wenn ich weit weg bin, jedes Mal, wenn ich die Stimmung nur noch durch Medien, Freunde und Social Media wahrnehmen kann, kommt es mir vor, als werde dieses Land, pardon, immer gestörter. Als sei das einzige kollektive Anliegen, auf das man sich noch einigen kann, das, sich in eine ausweglose Situation zu bewegen, sich möglichst so unwiderruflich gegeneinander aufzubringen, sodass der einzig plausible Ausgang des Ganzen nur eine weitere Verhärtung, eine weitere, tiefere Spaltung einer ohnehin schon gnadenlos gespaltenen Gesellschaft sein kann.
Nehmen wir das Beispiel des Marsches gegen die „Islamophobie“ am vergangenen Sonntag. Nachdem man wochenlang auf allen Kanälen über das Kopftuch gestritten hat, und auf der Pro- wie auf der Kontraseite mal kleineren und mal größeren Blödsinn von sich gegeben, aber nichts geregelt hat, entflammte nun vor zehn Tagen die nächste leere Debatte über den Islam: Als Reaktion auf den Anschlag auf eine Moschee in Bayonne rief das „Kollektiv gegen die Islamophobie in Frankreich“ in Libération zu einem Marsch gegen die Islamophobie auf. Mehrere linke Politiker, viele der France Insoumise, ein paar der französischen Grünen, unterschrieben den Appell, bis man, huch, feststellte, dass auch Personen, die den Muslimbrüdern, also dem politischen Islam, nahestehen, unterzeichnet hatten.
In dieser Gesellschaft durch die Pariser Straßen zu laufen, ist natürlich nicht gut für die Glaubwürdigkeit, also versuchten sich einige Unterzeichner (nicht alle, Jean-Luc Mélenchon lief mit) mehr oder weniger elegant, meist eher peinlich, aus der Sache rauszuwinden. Ihre Gegner, allen voran die gesellschaftlichen Superzündler des Rassemblement National, klatschten natürlich vor Freude in die Hände. Endlich hatten die „Islamogauchistes“ sich als die blinden Idioten geoutet, als die sie sie schon immer darstellten.
Die Tweets schossen hin und her, es wurde sich empört, sich gegenseitig beschuldigt, und auf den Dauernachrichtensendern gab’s viel Stammtischgerede im Sinne von „Was hat wer gesagt“. Auf der Demonstration selbst, an der wohl knapp 13.000 Menschen teilgenommen haben, muss es friedlich gewesen sein. Wobei: Irgendwer kam auf die glorreich provokante Idee, die Masse „Allahu Akbar“ rufen zu lassen, eine junge Frau entblößte sich (ebenfalls schön provokant) Femen-artig und rief auf, die französische Laizität nicht zu verscherbeln. Ein kleines Mädchen lief Bildern zufolge mit, Achtung, einem gelben Stern auf der Brust herum, was wohl so viel heißen soll wie „Muslime sind die Juden von heute“. Wow. Ich weiß nicht, wie das alles von innen aussieht, sicher herrlich, aus der Ferne möchte man allerdings nur rufen: Haltet doch alle mal kurz den Mund. Und nehmt Abstand.
Annabelle Hirsch ist freie Autorin in Paris.
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