Kultusminister wollen Bildungsstandard senken: Tschüss, Hauptschule!
Jeder zweite Hauptschüler bleibt bei der Leistungsmessung unter dem Mindestniveau. Experten befürchten, dass die Hauptschulen zu Sonderschulen degradiert werden.
BERLIN taz Eine Hauptschule irgendwo in Deutschland. Benjamin, 16, soll Auskunft geben, was er von seiner Lehranstalt hält. "In der Schule sitz ich halt immer nur da und lern den gleichen Schmarrn. Für nichts eigentlich." Sein Lehrer Bernhard Harzer sagt, die ganze Berufshierarchie habe sich nach oben verschoben. "Und da bleibt der Hauptschüler irgendwo auf der Strecke. Denn was bleibt für ihn noch?", fragte Harzer in der jüngst gesendeten Hauptschul-Doku "Klassenkampf".
In den 1960er-Jahren besuchten noch 70 Prozent eines Jahrgangs die Hauptschule. Heute ist ihr Anteil bundesweit auf unter 10 Prozent gesunken. Gerade mal 889.132 Schüler gingen letztes Jahr noch in reine Hauptschulen. Das ist erneut ein Minus von knapp 7 Prozent gegenüber 2006. "Bundesweit arbeitet etwa jede fünfte Hauptschule in sehr problematischen Lernkontexten", heißt es im Bildungsbericht 2008. Das geht auf eine Studie von Jürgen Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts, zurück. Er hat gezeigt, dass in Hessen, NRW und den Stadtstaaten 40 bis 90 Prozent der Hauptschulen praktisch nicht mehr beschulbar sind. Bildungsstandards sind ein wichtiges Reforminstrument. Sie helfen, von der Wissensorientierung der Lehrpläne auf Schüler-Kompetenzen umzustellen. So lassen sich die Leistungen besser messen - und der Unterricht kann leichter in Aufgaben übersetzt werden. CIF
Was Benjamin und sein Lehrer aus der Wittelsbacher-Hauptschule in München geahnt haben, wird jetzt zur Gewissheit. Amtlich beglaubigt sozusagen. Die Kultusminister der Länder wollen auf ihrer heutigen Sitzung beschließen, die Hauptschulen nicht mehr an den Bildungsstandards der allgemeinbildenden Schulen zu messen. Experten befürchten, dass die Hauptschulen damit zu Sonderschulen degradiert werden.
Für mehrere Jahre, so heißt es in einem Beschlusspapier, das der taz vorliegt, "wird für die Hauptschulabschluss-Standards die vorgesehene Anbindung an die Lernstandserhebungen (Vera 8) ausgesetzt, die ansonsten wie geplant weiterlaufen". Das bedeutet, dass das einzige bundesweite Reforminstrument für den Umbau der Schulen, die Bildungsstandards, bis 2015 auf die Hauptschulen keine messbare Anwendung mehr findet. Das kommt der Bankrotterklärung für eine Schulform gleich, welche die Kultusminister seit der ersten Pisastudie vor sieben Jahren zäh verteidigen.
Ab kommendem Jahr wollte die Konferenz der Kultusminister (KMK) möglichst alle Schulformen erstmals in die neuen Bildungsstandards einordnen. Diese Standards sind eine Art nationaler Pisa-Maßstab, den das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) entwickelt. Ehe es aber nun so weit kam, trat IQB-Chef Olaf Köller kürzlich mit einer vertraulichen Botschaft an die Minister heran: Bei der Normierung der Hauptschulstandards hätte sich gezeigt, dass über die Hälfte der Hauptschüler nicht einmal die Mindeststufe erreicht.
"Dabei wurden in Englisch und Mathematik beim Hauptschulabschluss die aus Pisa bekannten Probleme sichtbar", notierten die Beamten der KMK Köllers Katastrophenmeldung verschämt. "Der Anteil von Schülern, die den Hauptschulabschluss anstreben und in beiden Fächern die Mindeststandards verfehlen, liegt ähnlich hoch wie der Anteil in der sogenannten Pisa-Risikogruppe üblicherweise ist." Nach Informationen der taz sollen es in den Ländern bis zu 70 Prozent der Hauptschüler sein, die unter dem Mindestniveau bleiben, das die KMK anlegt. Messgrundlage dafür waren die Ergebnisse des frischen Pisa-E-Vergleichs, der kommende Woche veröffentlicht werden soll.
Experten und Schulforscher reagierten auf Anfrage der taz entsetzt auf den Plan der Kultusminister. "Das bedeutet, den Hauptschulen den Stempel einer Sonderschule aufzudrücken und sie wie die Sonderschulen aus Pisa sowie anderen Leistungsstudien vom allgemeinbildenden Schulwesen abzukoppeln", sagte Heika Solga, die Forschungsdirektorin für Ausbildung und Arbeitsmarkt am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung ist. Gerade für die Hauptschulen sei wichtig, "schnell zu erfahren, ob sie überhaupt noch in der Lage sind, das Leistungsminimum zu vermitteln."
Die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Marianne Demmer, sagte: "Die Kultusminister sind es, die jahrelang den Zustand der Hauptschulen schöngeredet haben. Anstatt jetzt ihr Elend zu vertuschen, sollten sie sich endlich Gedanken machen, sie in eine Schule für alle zu integrieren." Den Kultusministern selbst ist die Angelegenheit unangenehm. Der taz liegt die Kommunikationsstrategie vor, mit der der geplante Hauptschul-K. o. verkauft werden soll. Darin wird vorgeschlagen, der Öffentlichkeit zu erklären, dass die Standards für Hauptschüler lediglich "nachnormiert" würden. Dort steht, dass "Leistungserwartungen der KMK stärker mit der Realität des von Schülerinnen tatsächlich erbrachten Leistungsstands in Einklang zu bringen" seien. Übersetzt bedeutet dies, dass die Ansprüche an die Hauptschule so weit heruntergefahren werden, bis auch die Zahl der Scheiternden sinkt.
Niedersachsens Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU) mochte am Mittwoch nicht über "mögliche Beschlüsse der Kultusminister spekulieren". Sie verteidigte die Hauptschulen als "wichtigen Bestandteil des gegliederten Schulsystems, das wir in Niedersachsen weiter stärken". Abschaffen wollen die Minister die Hauptschule also nicht.
In dem Dokumentarfilm über die Wittelsbacher-Hauptschule in München überreicht die Lehrerin ihren Schülern die Zeugnisse. Zu einem Schüler, der den Abschluss nicht geschafft hat, sagt sie: "Fari, du warst vernünftig, du hast dich von der Prüfung abgemeldet, weil es rechnerisch nicht mehr ging."
Das ist im Kleinen das, was die Kultusminister den Hauptschulen im Großen mitteilen wollen: Seid vernünftig und meldet euch ab. Denn ihr schafft es nicht mehr.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen