Kultur: Der zarte Duft von Kiefernpollen
Aus natürlichen Substanzen wie Blütenstaub, Reis und Milch schafft WolfgangLaib Kunstwerke, die so ungewöhnlichsind wie seine Biografie. Das Kunstmuseum Stuttgart zeigt nun eine große Retrospektive auf sein Gesamtwerk.
Von Dietrich Heißenbüttel↓
Das gelbe Quadrat scheint zu leuchten. Als obdie Sommersonne hereinschiene. Doch in deninnersten Raum des Kubus, die Herzkammerdes Stuttgarter Kunstmuseums, dringt kein Tageslicht. Das hellgelbe Quadrat auf dem Boden ist weder angestrahlt, noch handelt es sich umein Pigment von besonderer Leuchtkraft. Wolfgang Laib hat Blütenstaub von Kiefern auf demBoden ausgesiebt. Und das wirkt, als hätte einerdas Sonnenlicht angeknipst in dem ansonstenleblosen, elektrisch beleuchteten Raum.
Blütenstaub ist etwas mehr als ein Pigment.Blütenstaub und Milch, sagt Laib, seien die„Essenz des Lebens“: Ohne Blütenstaub könn-ten sich Pflanzen nicht vermehren, und ohnePflanzen gebe es keine Tiere und Menschen.Milch ist die erste Nahrung aller Säugetiere.Milch hat Laib in seinen „Milchsteinen“ ver-wendet: den ersten Kunstwerken, die er ausgestellt hat, zuerst 1976 in der Stuttgarter Galerie Müller-Roth.
Schon bald machten seine Arbeiten dieRunde um die ganze Welt: 1979 stellte er erst-mals in New York aus und lernte dort seine Frau Carolyn kennen, eine Restauratorin asiatischerKunst; 1982 war er sowohl auf der Documenta als auch auf der Biennale von Venedig undstellte ab 1989 auch in Japan aus, wo er 2015 denPraemium Imperiale erhielt, den „Nobelpreis der Künste“. Die Retrospektive im Kunstmuseum (seine erste Einzelausstellung in Stuttgartseit 1989) zeigt Werke aus allen Schaffens-perioden. Darunter auch einen Milchstein.
Laibs Milchsteine sind rechteckige weiße Marmorplatten mit einem kleinen, millimeterhohenRand. Vorsichtig gießt er Milch hinein, bis sichdiese aufgrund der Oberflächenspannung leichtüber den Rand erhebt. Im Kunstmuseum werdendie Milchsteine allerdings nur einmal im Monatbefüllt, jeweils für einen Tag, und dann wiedergereinigt. Bei der sommerlichen Hitze würdedie Milch sonst schnell sauer werden und unangenehm riechen.
Ein Stockwerk voller Reishäufchen
Eine gewisse Duftnote gehört aber auch zuanderen natürlichen Substanzen, die Laib inseinen Kunstwerken verarbeitet: sehr zart bei den Kiefernpollen, kräftiger bei Bienenwachsoder den tausenden kleinen Reishäufchen, die auf der gesamten obersten Etage des Kubus denBoden bedecken. In diesem „Reisfeld“ stehenweiter hinten drei große, mit burmanischemLack rot oder schwarz gestrichene treppenförmige Skulpturen.
„Zikkurat“ nennt Laib die mittlere, beidseitigansteigende Treppe: nach den babylonischen Tempelbergen und Herrschersitzen, von denener einige im Alter von 18 Jahren auf Reisender Familie in den Irak gesehen hat. Sein Vater, Gustav Laib, Arzt in Biberach, hatte in den 1960er-Jahren eine Ausstellung tantrischerKunst gesehen. Die geometrischen Formen erinnerten ihn an den abstrakten Maler Piet Mondrian. Seitdem wollte er nach Indien. 1965 reistedie Familie zunächst in die Türkei: nach Konya, in die Stadt des muslimischen Mystikers Dschalālad-Din Rūmi, des Begründers des Sufi-Ordensder tanzenden Derwische. Weitere Reisen in den Irak, Iran, Afghanistan und Indien sollten folgen.
Laibs Biographie ist so ungewöhnlich wieseine Kunst. Nach der Kindheit in Metzingen zog seine Familie in die Nähe von Biberach. Der Vater hatte einen jungen Schweizer Architekten, der am Bau der Ulmer Hochschule für Gestaltung beteiligt war, mit einem modernen, flachgedeckten, rundum verglasten Wohnhaus beauftragt, in dem der Künstler noch heute wohnt. Inder ländlichen Umgebung Oberschwabens muss dieses Haus damals gewirkt haben wie ein vom Himmel gefallener Meteorit.
Weißer Marmormit Milch
Anders als andere Jugendliche, die 1968 achtzehn Jahre alt waren, rebellierte Laib nicht gegen seinen Vater, im Gegenteil. Zusammen besuchten sie Kunstausstellungen, wo immeres ging. Zurück aus der Türkei räumte derVater, beeindruckt vom Leben einfacher Leute dort, sämtliche Möbel aus ihrer Wohnung. Laibschrieb sich in Tübingen für ein Medizinstu-dium ein. Als sein Vater 1972 in Südindien einhalbes Jahr an einem Hilfsprojekt der Gan-dhigram-Stiftung von Schülern Mahatma Gandhis mitwirkte, brachte er von dort das Thema seiner Doktorarbeit mit: „Untersuchungen zur Trinkwasserhygiene im ländlichen Südindien“.
Seine Dissertation hat Laib noch geschrieben.Doch als er zurück kam, stürzte er sich zuerstin eine künstlerische Arbeit: In einem zeitaufwendigen Prozess bearbeitete er einen Findling aus schwarzem Granit, bis dieser die ovale Formeines Brahmanda hatte: ein Weltenei. Die Entscheidung für die Kunst war gefallen.
Die Idee, weißen Marmor mit Milch zu kombinieren, habe er aus Südindien mitgebracht, gesteht Laib. Insbesondere der Jainismus, eine religiöse Richtung, die zur selben Zeit wieder Buddhismus entstand, imponiert ihm.DieJainas, Vegetarier und Pazifisten, begnügen sichmit dem Lebensnotwendigen.
Laibs Vater sammelte auch Werke von Künstlern der Ulmer Hochschule für Gestaltung,unter anderem von Josef Albers: ein ehemaliger Bauhaus-Schüler und -Lehrer, der in der NS-Zeitin die USA emigriert war. „Hommage to theSquare“ heißt dessen berühmteste Werkreihe: eine Huldigung an das Quadrat. Dass Quadrate Kunst sein können, war für Laib von Kindesbeinen an klar. „Kunst ist das Wichtigste auf derWelt“, behauptet er: „Oder nicht?“
Rund um Laibs Haus bei Biberach ist es ruhig. Das größte Ereignis ist der Wandel derJahreszeiten. Vielleicht sechs Wochen im Früh-jahr sind die Wiesen gelb von blühendem Löwen-zahn. Schon 1977 begann Laib, den Blütenstaubzu sammeln: eine Tätigkeit, die viel Gedulderfordert, ihn aber noch mehr eintauchen lässt in die Natur. Nicht mehr als ein, zwei Gläschenkommen in einer Saison zusammen. Bei Kiefern ist es etwas mehr, und er kann die Blüten im Stehen erreichen, statt den ganzen Tag aufdem Boden zu kauern.
Die „Stadt des Schweigens“
Dass er seit mehr als 40 Jahren dasselbe tut,stört Laib nicht. Immerfort neue Ideen zu produzieren, ist nicht sein Anspruch. Gleichwohl verlangt die Aufmerksamkeitsökonomie derKunstwelt, dass eine Ausstellung etwas Neues zu bieten hat. Laib hat seine „Türme des Schweigens“, meterhohe Wachs-Stelen, um weitereSkulpturen zu einer „Stadt des Schweigens“ erweitert. „Wissen Sie, was Türme des Schweigenssind?“, fragt er. Anhänger des Zarathustra im alten Persien legten ihre Toten auf die Dachterrassen runder Türme, wo sich die Geier über siehermachten. Die Anhänger dieser Religion, die Parsen, leben heute zumeist in Bombay, fügt derKünstler hinzu.
Laib hat seine Werke vor Ort selbst arrangiert. Sie treten dadurch in einen Dialog mit der Architektur, setzen den Kubus des Kunstmuseums in ein neues Licht: vor allem das Reisfeld ganz obenund das Kiefernpollen-Quadrat im Zentrum.
Zwölf große Zeichnungen zeigen weiße Dreiecke – wie Zipfelmützen – auf crèmefarbenem Papier. Sie beziehen sich auf den Gesang des Milarepa von den zwölf Glückseligkeiten desYoga. Jetsün Milarepa war ein Yogi der tantrischen Richtung des Buddhismus, der von 1040 bis 1123 im Tibet lebte. Ein weiterer Bezugspunkt für Laib – wie Rumi, wie die Religion der Parsen, aber auch der Heilige Franziskus oderder chinesische Philosoph Lao Tse, dessen Buch„Tao te king“ ihm bereits in jungen Jahren der Biberacher Landschaftsmaler Jakob Bräcklenahebrachte, der einzige Freund der Familie.
Texte aus solchen Weisheitslehren, die Laibetwas bedeuten, zusammen mit kleinen Abbildungen von ihm und seiner Kunst sowie Fotos,die er selbst oder bereits sein Vater auf ihrenReisen angefertigt haben, versammelt einezur Ausstellung erschienene Publikation inhandlichem Format. Die Weltreligionen Islam,Buddhismus, Christentum, Jainismus stehen den deutschen Romantikern und FriedrichNietzsche gegenüber.
„The Beginning of Something Else“ lautet der Titel des Buchs wie der der Ausstellung im Kunstmuseum: der Beginn von etwas anderem. „You Will Go Somewhere Else“ heißt eine der ausgestellten Arbeiten: Boote aus Wachs aufeinem hohen Gestell aus Holz. Nicht nur in dergriechischen Mythologie sind Schiffe wie der Nachen des Charon ein Symbol für die „letzteReise“ des Menschen nach seinem Tod. Anders als manche religiösen Texte gibt Laib nicht vor zu wissen, wohin diese Reise führt.
Die Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart läuft bis 5. November, geöffnet dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr, freitags bis 20 Uhr. Der Milchstein wird befüllt am 20. August, 17. September, 1. Oktober und 22. Oktober, jeweils um 11 Uhr.
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