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FUTURZWEI

Künstliche Intelligenz Die neue Vergangenheit

Durch Künstliche Intelligenz wird die Vergangenheit virtuelle Gegenwart. Wie „Vikings“ und „Game of Thrones“, nur noch bunter und unhistorischer. Was sind die ideologischen und politischen Konsequenzen?

Ein mittels der künstlichen Intelligenz Chat GPT erstellter Gottesdienst auf dem Kirchentag 2023. Foto: Daniel Vogl / dpa

Von JAN SÖFFNER

taz FUTURZWEI, 27.06.2023 | Nachdem die Software Deep Blue den damaligen Weltmeister Gari Kasparov 1996 im Schach bezwang, dauerte es 20 Jahre, bis AlphaGo ähnliches mit Lee Sedol im Go gelang. Nachdem der Altavista Babel Fish 1997 online gestellt wurde, dauerte es 21 Jahre bis mit DeepL ein fast fehlerfreier digitaler Übersetzer eingeführt werden konnte.

Gegenwärtig hat man den Eindruck, dass ähnliche Entwicklungen und Erfindungen eher eine Frage von Monaten, wenn nicht Wochen sind. Und wer sich nicht hatte vorstellen können, wie eine exponentielle Entwicklung der Künstlichen Intelligenz die menschliche Anpassungsfähigkeit überrollt, gewinnt langsam einen Geschmack davon.

Im Augenblick findet diese Entwicklung besonders spektakulär im Rahmen generativer KI statt, das heisst in den Bereichen, die man einst kreativ genannt hatte. Noch vor kurzer Zeit galten Kreativität und ungewöhnliche Problemlösungen als eine der wichtigsten menschlichen Kompetenzen für die Zukunft. Wer behauptete, dass künstliche Intelligenz in kurzer Zeit kreativer sein würde als Menschen, wurde bestenfalls schief angesehen. Inzwischen belegt der Streik der Drehbuchschreiber in den USA, dass man dort Sorge hat. Und auch unter den Kreativen anderer Branchen (Musik seit DeepBach und anderen, Graphik und bildende Kunst seit Midjourney, Dall-E und anderen, Öffentlichkeits-Kommunikation seit ChatGPT und anderen) macht sich ein unangenehmes Gefühl breit. Ein Gefühl, das bislang nur diejenigen Menschen kannten, deren einst angesehenes Handwerk auf mechanische Weise automatisiert werden konnte.

Automatisierung des kollektiven Imaginären

Unsere Wirklichkeit hängt – darauf hat Yuval Noah Harari kürzlich aufmerksam gemacht – von unserem kollektiven Imaginären ab (von der Fiktion, wie er es nennt). Wenn sich dieses Imaginäre automatisieren lässt, ist klar, dass KI sich in herkömmliche Formen der Realitätskonstruktion einnistet. Das gilt vielleicht am meisten für unsere Vergangenheit, die noch viel offenkundiger eine imaginäre Konstruktion ist als die Gegenwart. Denn diese muss man archivieren, aus Quellen deuten und plausibilisieren, man muss sie im Gedächtnis behalten, sie inszenieren, malen, verfilmen, zelebrieren, vergegenwärtigen. Je mehr künstliche Intelligenzen in diese Arbeit am kulturellen Imaginären eingreifen, desto leichter werden sie unsere Vergangenheit transformieren.

Meine Vermutung ist, dass die Vergangenheit darüber den Index des Unwiederbringlichen und damit des „Historischen“ im engeren Sinne des Wortes verlieren wird. Um diese Vermutung etwas klarer auszuführen, möchte ich vier Phasen unterscheiden, die nicht als Abfolge zu begreifen sind, sondern eher kausal aufeinander aufbauen.

Die erste Phase ist schon allgegenwärtig zu beobachten. Bereits heute zelebrieren Museen, Filme, immersive Umgebungen wie auch Videospiele ihre Fähigkeit, Vergangenes nicht als vergangen, sondern als virtuell zu begreifen und als solches in die Gegenwart zurückzuholen. Der nur noch als Ruine stehende Palast Neros, die Domus Aurea zeigt in der VR-Brille ihre vergangene Größe als gegenwärtig – Dokus virtuell rekonstruierter Saurier werden zum Verwechseln ähnlich mit den Tierfilmen von Terra X. Ruinen, Fossilien und Relikte sind damit nicht mehr Indizes des Vergangenen, sondern Aufforderungen, den Rest zu rekonstruieren und in die Gegenwart zu holen.

Mit den Toten sprechen

Bei dieser Aufforderung setzt die zweite Phase an, in der die generative Software ins Spiel kommt. Sie nutzt die Lücken des Wissens, um im Rahmen dieser Rekonstruktion das Spiel der Möglichkeiten freizusetzen. So werden auch historische Persönlichkeiten plausibel ins Leben zurückgerufen und man kann beginnen, sich mit fiktiven Doubles der Toten zu unterhalten (so schon heute, wenn auch recht rudimentär auf „character.ai“), die sich in diesem Prozess, völlig unabhängig von irgendwelchen Fakten, entlang der Zufriedenheit der User optimieren.

Natürlich ging es mit der Vergangenheit noch nie rein faktenbasiert zu, der historische Heinrich V. hatte auch weniger mit dem 16. Jahrhundert zu tun als derjenige, den Shakespeare wiedererstehen ließ. Selbst die Disziplin der Geschichtsschreibung ist, wie Hayden White nachdrücklich in Erinnerung gerufen hat, auf plausibilisierte Fiktion angewiesen. Und darüber hinaus gibt es schon jetzt eine Flut literarischer (etwa in historischen Romanen gefasster), bildnerischer und virtueller (man denke an moderne Museen), und rituell überformter Vergangenheiten (zum Beispiel Gedenktage), die als Vorläufer dieser Entwicklung gelten können. Denn auch diese hatten nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die jeweilige Gegenwart im Auge und passten sich an sie an.

Eine imaginäre Parallelwelt

Aber einerseits die avanciertere Interaktion und andererseits die schiere Masse an digital generierbaren Vergangenheiten sorgt dafür, dass in dieser Phase die Geschichtswissenschaft mit ihrer Kritik das kulturelle Imaginäre nicht mehr leiten, geschweige denn bestimmen können wird. In der Fülle von Simulationen verselbständigt sich damit ein imaginärer Stil der jeweiligen Zeiten. Und gemäß diesem lassen sich auch frei generierte Rekonstruktionen verlorener Werke unter die überlieferten mischen, die von den echten nicht mehr so einfach zu unterscheiden sind: Sapphos Oden werden nur für diejenigen, die Fragmente mögen, Fragmente sein. Interessierte können Nikolai Gogols (eigentlich verlorenen) zweiten Teil von „Die toten Seelen“ lesen, und der reformatorische Bildersturm wird für diejenigen rückgängig gemacht, die dies wünschen.

Es entsteht eine imaginäre Parallelwelt, die den Verlust der Bibliothek von Alexandria vergessen lassen wird. Der bewundernswerte Kunstfälscher Beltracchi und auch James „Ossian“ MacPherson, der im 18. Jahrhundert „antike“ keltische Epen verfasste, könnten als Visionäre dieser neuen Vergangenheit gelten. Die Fiktion schreibt sich nicht nur in die Deutungen, sondern auch in die Quellen ein – wodurch der Index des Vergangenen sich weiter verliert.

Hegemonialität überall

In Phase Drei emanzipiert sich das KI-beflügelte historische Imaginäre allmählich gänzlich von den Archiven, die der ersten Phase noch als Datenreservoir dienten. Man baut nun vielmehr auf der neu entstandenen Ästhetik und Atmosphäre auf und erreicht bei beiden – auf Grundlage des jeweiligen viralen Erfolgs mancher „Quellen“ – eine größere Anpassung an den Geschmack der Gegenwart: eine weitere Emanzipation der Geschichte(n) von der Vergangenheit – sie werden in etwa so viel oder wenig mit einander zu tun haben wie die Serie „Vikings“ mit den Wikingern oder „Pirates of the Caribbean“ mit dem Seemannsgarn des 18. Jahrhunderts. Welche gegenwärtige Kultur in dieser Explosion des Imaginären dominant ist, wird zur hegemonialen Kultur inklusive hegemonialer Hochglanz-Vergangenheit und hegemonialer Mythen.

Die vierte Phase erledigt im kulturellen Imaginären die Vergangenheit des Vergangenen vollends, indem sie den Unterschied zwischen Vergangenem und Virtuellem verwischt. Diese Phase ist gekennzeichnet durch die Schaffung übergreifender hybrider, aus verschiedenen Vergangenheiten zusammengestellter Alternativvergangenheiten nach dem Vorbild der Fantasy: So wie „Game of Thrones“ Kostüme, Völker, Städte und auch Geschichten aus dem reichen Fundus verschiedenster Historien zusammenstellt, so wird dies im breiten Stil in dieser Phase geschehen. Die Fremdheit der Vergangenheit weicht einer Exotisierung – einem mundgerecht verpackten Erstaunen über spektakuläre virtuelle Extravaganz.

Man könnte nun denken, dass zumindest diese vierte Phase ihre Grenzen hat und immerhin die jüngere Geschichte nicht erfassen könnte, da Zeitzeugen und deren Erinnerungen, da die Menschen sich ja zumindest an ihre eigene Vergangenheit erinnern und sich nicht so einfach von einer derartigen Verfälschung hingeben würden; doch sollte man die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses an dominante Narrative nicht unterschätzen. Vielmehr ist zu erwarten, dass Zeitzeugen – wie schon in gegenwärtigen Geschichtskulturen – der virtuellen Geschichte die vermeintliche Authentizität zuwachsen lassen, die ihr ansonsten noch fehlen würde.

Zuspitzung gesellschaftlicher Konflikte über die Vergangenheit

Alle vier Phasen haben ideologische und politische Konsequenzen. Gegenwärtige gesellschaftliche Konflikte über die Vergangenheit könnten sich zuspitzen. Was wir derzeit bereits in Auseinandersetzungen über die Geschichte der Ukraine, über Gedenktage, schulische Lehrpläne und Denkmäler erleben, alles, was teilweise als „Cancel-Culture“ betrieben, teils als solche verunglimpft wird, ist vielleicht nur eine schale Ankündigung dieser Entwicklung. Allmählich aber dürften die Konflikte immer weniger um die Ideologisierungsgewalt, sondern vielmehr um die Virtualisierungsgewalt gehen: Nicht darum, was vermittels der Vergangenheit über die Gegenwart gesagt werden soll, sondern wie man in der virtuell vergegenwärtigten Vergangenheit leben wird.

Und wer weiß: vielleicht wird die Ideologisierung „historisch gewachsener“ Identitäten auf diesem Weg tatsächlich übersteigert. Vielleicht aber löst sie sich auch in eine bloße Ästhetik auf. Es könnte geschehen, dass eine Welle historischen Revisionismus' ausgelöst wird – aber vielleicht auch wieder nur in dem Maße, in dem auch seine Kritik durch alternativ generierte Vergangenheiten analog zu den Alternativen Fakten der Gegenwart beflügelt würde. Es könnte geschehen, dass historische Schuld und historische Verantwortung sich in Virtualität auflösen – es könnte aber auch geschehen, dass sie bloß eine neue Gestalt annehmen und bloß greifbarer werden. Es könnte geschehen, dass die gegenwärtige gesellschaftliche Spaltung durch dieses andere „Ende der Geschichte“ unerträglich wird – oder aber sie wird so lächerlich, dass sie abebbt. An diesem Spielraum tritt unsere Verantwortung gegenüber der neuen Vergangenheit zum Vorschein.

Immerhin dürfte es nicht langweilig werden. Und so gern ich auch vor der beschriebenen Zukunft warne: ein wenig freue ich mich auch auf sie. Frischen Wind kann unsere Vergangenheit ja durchaus brauchen.

JAN SÖFFNER ist Professor für Kulturtheorie an der Zeppelin Universität, Friedrichshafen.