Kühn aber misslungen: Vom Wunder des Scheiterns

Mahlers dritte Symphonie ist ein musikalischer Weltentwurf: Bremens Musiktheaterchef Benedikt von Peter hat versucht, ihn zu veropern.

Wie ein Film-Serienkiller hat Nadine Geyersbach im Komponierhäuschen den Ensemble-Fotos die Augen ausgebürstet. "O Mensch! Gib acht!", singt ihr Nadja Stefanoff ins Gesicht. Bild: Jörg Landsberg

BREMEN taz | Oft ist Theater gerade im Scheitern seiner Erfüllung am nächsten. Denn im Scheitern erobert es seine Würde als Wagnis zurück, die ihm in einem wie am Schnürchen ablaufenden Bühnenerlebnis schon mal abhanden zu kommen droht: Die Option des Scheiterns gehört zum Theater als einer abenteuerlichen Suche nach dem, was es eigentlich soll, und nach dem, was es kann. Geradezu notwendig landet, wer sie ernsthaft betreibt, auch an Punkten, wo es nichts vermag. Und das ist in Bremen die Dritte Symphonie von Gustav Mahler, die Opernchef Benedikt von Peter inszeniert hat.

Gesellschaftliche Brisanz

Der ist eigentlich ein Held: Drängender als der Opernregisseur stellt in Deutschland derzeit keiner diese Zentralfragen der performing arts. Und sowohl seine zwei hannoverschen Inszenierungen – Luigi Nonos Kommunismus-Vertonung „Intolleranza 1960“ und eine extremistische „Traviata“ – als auch sein Bremer Debüt, „Mahagonny“, belegen, dass dieses Fragen gesellschaftliche Brisanz gerade im Musiktheater entfalten kann.

Komponiert hat Gustav Mahler (1860-1911) seine dritte Symphonie in d-Moll während seiner letzten Jahre als Chefdirigent der Hamburgischen Staatsoper (1895/1896).

Mit fast zwei Stunden Spieldauer ist sie die längste klassische Symphonie. Das Werk bildet laut Mahler "eine alle Stufen der Entwicklung in schrittweiser Steigerung umfassende musikalische Dichtung": Zum Ausdruck komme dies im Motto des sechsten Satzes, "Vater sieh an die Wunden mein! Kein Wesen laß verloren sein!".

Diese kosmische Programmatik betonen die - später gelöschten - Satztitel. Sie lauteten: "Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein (Bacchuszug)", "Was die Blumen mir erzählen", "Was die Tiere mir erzählen", "Was die Nacht mir erzählt (der Mensch)", "Was die Morgenglocken mir erzählen (die Engel)", "Was die Liebe mir erzählt". Der vor der Uraufführung ausgeschiedenen 7. Satz hieß "Was mir das Kind erzählt".

Neben Mahlers Komponierweise befeuert seine Bezugnahme auf Literatur musiktheoretische Deutungen: Explizit auf "Des Knaben Wunderhorn" beruhen der Kinderchor "Es sungen drei Engel" im 5. Satz, aber auch die rein-instrumentellen Sätze 3 und 6. Ebenso deutlich die Nietzsche-Verweise: "Die fröhliche Wissenschaft" hat Mahler das Werk genannt, das im 4. Satz vertonte Gedicht "O Mensch! Gib acht!" stammt aus "Also sprach Zarathustra".

In dieser Reihe steht der mit dem Bremer Generalmusikdirektor Markus Poschner unternommene Versuch einer Veroperung jenes kompositorischen Weltentwurfs von Mahlers Dritter. Ein kühner Versuch: So etwas gab’s noch nie, Und er verdient Bewunderung.

Musikalisch allerdings bringt der Ansatz vor allem Nachteile. Dadurch, dass das Werk, obwohl live aufgeführt, durch Lautsprecher gejagt wird, entsteht ein indiskutabler Klang. Wer also nicht schon weiß, dass die Bremer Philharmoniker die Qualität hätten, diese Monster-Symphonie achtbar zu interpretieren, der kann es hier nicht erfahren:

Ein schlechter Abend für Mahler-Fans, der aber auch denen, die nicht nur das Klimaanlagen-Gebläs, sondern bereits das komponierte Gefiedel und Getöse als unangenehm empfinden, keine Lust verschafft.

Zumal die Performance dürftig bleibt: An Leinwände und ein aus Zeltplanen konstruiertes „Komponierhäusel“ mitten im Zuschauerraum beamt der Hamburger Videokünstler Timo Schierhorn thematisch sortierte Youtube-Clips: Almabtriebe, die Mahler ebenso einkomponiert hat wie Schützenmärsche, aber auch Nicht-Vertontes wie Sommerrodelbahnschussfahrten, Bombentests und dann und wann ein arg gequältes Reh.

Die – mit grandioser Präsenz begabte – Schauspielerin Nadine Geyersbach schleicht während der 110 Minuten-Show in einem Overall aus weißem Latex mit altmodischem Fliegerkäppi durchs Parkett und über die Bühne, versinkt im Boden, taucht wieder auf und filmt ZuschauerInnen, was umgehend auf die Projektionsflächen übertragen wird. BühnenarbeiterInnen tragen künstliche Birken durch den Raum und rascheln im Takt.

Der szenische Höhepunkt ist erreicht, als die textilen Wände des erwähnten Komponierhäuschens ruppig abgetragen werden. In dem hat Geyersbach nach dem Vorbild eines Hollywood-Serienkillers Fotos aller Ensemblemitglieder aufgehängt und ihnen – per Zahnbürste – Löcher an die Stellen von Mund und Augen geschrubbt:

Zu ihr wird sich die dunkel gewandete Nadja Stefanoff gesellen, gemeinsam blicken sie in den Spiegel, während die Altistin das Lied „O Mensch! Gib acht“ singt, das ist der vierte Satz und vielleicht der einzige Moment, der an einem dunklen Geheimnis, an der Gewalt dieser monströsen Komposition zu rühren vermag.

Stoff genug also für eine knappe halbe Stunde. Aber da ist halt der erste Satz noch nicht mal ganz vorbei. Und die recht pompöse Inszenierungsbehauptung des Anfangs – die Zuschauer werden über die Seiteneingänge zunächst auf die Hauptbühne, hinter den noch geschlossenen Vorhang geführt, vorbei an – auch da schon! – Almabtriebs-Videos und geschnitzten Kruzifixen, ins Dämmerdunkel mit leichter Benebelung – also das Versprechen, etwas Ungesehenes, Nie-Erlebtes zu erfahren, hat sich längst verläppert.

Es ist legitim, sich zu fragen, was denn der Scheiß solle: Denn kühn ist die Idee, eine Symphonie zu veropern. Aber sie wirkt dabei doch immer wie eine Kopfgeburt nach ausgedehntem Mindfuck: Dass man das mal tun müsse, einfach weil noch niemand es tat, und überhaupt Mahler! und die Dritte…!!!

Die Schwachpunkte sind mehr als offensichtlich: Da ist das Fehlen einer bühnentauglichen Handlung oder auch nur szenischen Aktion, zweitens das Fehlen einer bestimmbaren Bildsprache und drittens die absolute Dominanz der Musik – also letztlich, dass in der Symphonie genau das Begehren „nach ganzer Musik“ bereits gestillt ist, die zu wecken doch die Arbeit der Oper ist.

Im Komponierhäuschen

So hat das Friedrich Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ (1882) formuliert. Die ist hier von Belang, weil Mahler während der Arbeit an der Dritten einem Freund angekündigt hatte, er werde das ganze „Meine fröhliche Wissenschaft“ nennen.

Dazu passt, wenn auch allzu biografisch, dass er die Symphonie ja genau während seiner Sommerurlaube im Komponierhäuschen am Attersee schreibt, im Fluchtort vor den immer mehr belastenden Diensten an der Hamburger Oper, deren Chefdirigent er damals ist.

So gedacht, ist Mahlers Dritte mehr noch als jede andere Symphonie ein Gegenstück zur Oper, gerade weil sie deren Erfüllung bedeutet. Sie ist eine Oper, die aus der Unvollkommenheit von Wort, Bühnentechnik und Sängerschauspielerei befreit wurde, zum Ton und Klang erlöst: „Wenn man die Musik von Mahler hört, denkt man sofort an Oper“, hat von Peter festgestellt. Und er hat ja so recht.

Bloß: Gläubige, die Jesus sehen, denken auch an den Menschen, obwohl sie doch Gott vor Augen haben. Und während Tanz der Übersymphonie eine weitere Dimension eröffnen kann, indem er sich ihrer Musik anschmiegt, ihre Rhythmen aufgreift und ihre Melodien und Gedanken verräumlicht – so wie es John Peter Neumeier in seinem ewigen, noch 40 Jahre nach der Uraufführung elektrisierenden Hamburger Mahler III-Ballett tut – bleibt dem Musiktheater nur der Weg der Gegenrede:

Das Projekt, Mahlers Symphonie zu inszenieren, steht im Widerspruch zur kompositorischen Intention. Denkbar wäre es deshalb nur als rabiat-ironische Profanierung, als boshaftes Unterfangen. Sie müsste den Untergang der Übersymphonie inszenieren, ihr Pathos verwandeln und vielleicht zermalmen – durch ihre unausweichliche Wiederkunft als Oper. Eine perfide Parodie, die etwas sehr Mahlerisches gehabt hätte.

Aber dafür hat der experimentelle Furor nicht gereicht – abgesehen vielleicht von der gehässigen Pointe, dass das Orchester oben auf der Bühne sitzt, wo doch der Komponist einer der wichtigsten Propagandisten des Orchestergrabens war.

Zu blass bleiben auch solche destruktiven Ansätze wie die klanglichen Interventionen durch ein merkwürdig verhuschtes elektronisches Sounddesign von Tamer Özgonnencs: Akustische Gegenwucht entfaltet allenfalls ein kratzend-quälendes ins Mikro gespieltes Geräusch in einer Generalpause, meist aber sind die klanglichen Interventionen kaum von den Störgeräuschen der bühnentechnischen Anlagen zu unterscheiden.

Ein echter Denkfehler

Das ist kein Zufall, sondern entspricht der Entscheidung, sich Mahlers Suada zu unterwerfen und dem absurden Wunsch, ihre Effekte „hörbarer“ machen zu wollen: „Wir verstärken sozusagen die Anführungszeichen Mahlers für heutige Hörer“, so beschreibt von Peter seinen Ansatz, mit dem sich ein Volkshochschulseminar gestalten ließe. Aber keine Musiktheater-Revolution.

Ja, für die Bühne ist es sogar ein echter Denkfehler: Der dienstbare Habitus des Respekts, den der Regisseur vor einer Komposition einnimmt, die von Inszenierung nicht das mindeste wissen will, verdammt seine inszenatorischen Bemühungen dazu, sich selbst zum Verschwinden zu bringen.

„Wir haben noch viel zu viel“, hatte der Regisseur noch in der Woche vor der Aufführung im Bezug aufs szenische Material gesagt, „wir müssen sehen, was wir noch streichen können“: Wie tugendhaft! Wie maßvoll! Noch zwei Wochen Arbeit, und er wäre beim klassischen Konzert gelandet, ganz unverrauscht und frei von allem mimischen Gehampel. Was zweifellos ein gelungenerer Abend geworden wäre – nur künstlerisch noch unerheblicher.

So aber, im Scheitern, bleibt wenigstens die Hoffnung, dass die Suche fortlebt, die Lust am Fragen bleibt. Denn so niederschmetternd darf’s nicht enden.

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