berliner szenen: Kryptischer Pavillon
Gar nicht teuer
Auf dem U-Bahnhof Turmstraße gibt es einen gläsernen Pavillon, dessen Öffnungszeiten einem Code aus Primzahlen, Keilschriften und Wanderplagen unterliegen. Ein kryptisches Schema, das Lebende nicht mehr entschlüsseln können. Seit einigen Wochen behauptet ein Schild in Signalfarbe die Wiedereröffnung. Der Pavillon bleibt geschlossen. Aber es scheint nun stets, als hätte vor kurzem etwas stattgefunden, denn jedes Mal, wenn ich das gläserne Kabinett aufsuche, verdörren darin andere Blumen. Gestern waren es Lilien, die bräunlich vor sich hin knitterten. Morgen sind es vielleicht die kleinen wilden Rosen, die nicht mehr weitermachen wollen. Wie oft habe ich durch jene Scheiben gestarrt und Dinge gesehen, die uns alle überdauern werden: Miniaturviolinen, Räucherkerzen und sprechende Fußmatten, die beim Betreten mit synthetischem Stimmchen einen weihnachtlichen Gruß hervorquetschen. Messeneuheiten aus den Siebzigern, wie das Wiesel, das aus dem Ärmel hervorschnellt und über den Handteller huscht, oder die leopardenen Herrendessous, die pfiffige Verpackungskünstler in eine Walnuss gezwängt haben. Man findet Miniaturmythologeme in Gips gegossen: ein Relief, das die drei Grazien zeigt, von hinten und ohne Köpfe. Grußkarten für alle Gelegenheiten, an denen der Gilb nagt, und Stofftiere aus einer Zeichentrickserie, die nach Ausstrahlung der Pilotfolge eingestampft worden ist. Es gibt dort Kerzen in Formen, für die andere Kerzen sich schämen würden, und den ein oder anderen zum intergalaktischen Krieg gerüsteteten Plastik-Cyborg, der gar nicht teuer ist. Ich weiß nicht, wann das Sortiment umgruppiert wird, aber es geschieht. Ich weiß nicht, wessen Wille es lenkt, aber ich weiß, es muss ein sonderbarer sein. MONIKA RINCK
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