Kritik der Woche: Simone Schnase über „Jörg Seidel – Merci“: Zu wenig Schweiß
So viel Konsens ist selten wie bei dem 2014 verstorbenen Udo Jürgens: Er erreichte die Massen vom Stadl-Schunkler bis zum Intellektuellen. Selbst Jazz-Fans waren durchaus angetan, das Feuilleton beweinte seinen Tod. Ein Phänomen.
Das hing sicher damit zusammen, dass Jürgens den Schlager vom Pief der Nachkriegszeit befreite – und dennoch Schlager machte, dass er nicht nach Schwiegermutter-kompatibler Choreografie auftrat, sondern echt war und schwitzte – und dennoch die Frauen betörte, dass seine Texte durchaus scharfsinnig, kritisch und auch lustig sein konnten – aber dennoch nicht überfordernd und dass Jürgens seine Lieder selbst komponierte und seiner Musik Elemente aus dem französischen Chanson, aus Pop und aus Jazz beimengte.
So verwunderlich ist es also nicht, dass der Bremerhavener Jazzgitarrist und -sänger Jörg Seidel eine Hommage an Udo Jürgens aufgenommen hat, gemeinsam mit Michael Erian am Saxofon, Rob Bargad am Klavier, Klemens Marktl am Schlagzeug und Philip Zarfl am Bass. Genauer gesagt: zehn Jürgens-Lieder und ein eigener Song für den Verstorbenen.
Auf Anhieb wird klar: Hier sind Vollprofis am Werk, die swingenden, lupenreinen Bar-Jazz spielen. Kein Wunder, denn Seidel steht seit über dreißig Jahren auf der Bühne und hat mit Bill Ramsey, Ron Williams, Greetje Kauffeld, Ines Reiger und Silvia Droste gearbeitet. Er war an der Bremer Hochschule für Künste Dozent für E-Gitarre und lehrt an der Niederösterreichischen Jazzakademie Gesang.
Und wie ein Lehrstück klingt denn auch „Merci – My personal tribute to Udo Jürgens“. Dessen Bruder soll zwar begeistert gewesen sein von den Aufnahmen, hätten sie ihn doch zurückkatapultiert in die frühen Jahre von Udo Jürgens, als der noch Jazzpianist war – das Phänomen Jürgens kratzen sie freilich nur an.
Und zwar im musikalischen Bereich, denn die Strukturen nahezu aller seiner Lieder basieren auf typischen Jazz-Harmonien, sind also dankbare Vorlagen für einen Musiker wie Seidel und sicher auch der Grund dafür, dass er Jürgens-Fan ist, aber das Wesen seiner Songs sind sie nicht – und das hat Seidel nicht erkannt.
Stattdessen hat er Lieder wie „Ein ehrenwertes Haus“ oder „Ich weiß, was ich will“ perfekt eingespielt, perfekt produziert und perfekt gesungen mit einer Stimme, die alle Finessen des Jazzvokalisten beherrscht und das auch fleißig demonstriert – allein die Seele oder wenigstens eine einprägsame Klangfarbe, die fehlt ihr in Gänze.
Und so ist aus einer sicher herzlich gemeinten Verbeugung ein so glattes, unterkühltes Album geworden, dass es dem durchschnittlichen Udo-Jürgens-Hörer fröstelt und er sich traurig zurücksehnt nach dem schwitzenden Charmeur und seinen Bademantel.
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