Kritik an Daten für Hartz-IV-Regelsatz: "Eine geschüttelte Zahl"
Der Paritätische Wohlfahrtsverband rügt die Datenbasis für den neuen Regelsatz von 364 Euro. Das Verfahren sei "weder nachvollziehbar, noch sach- oder realitätsgerecht.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat bekräftigt, dass die Berechnungsgrundlage für die neuen Hartz-IV-Sätze voraussichtlich nicht verfassungskonform sei. Denn: "Dass durch das Bundesarbeitsministerium vorgeschlagene Verfahren ist weder nachvollziehbar, noch sach- oder realitätsgerecht" sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen. Genau diese Anforderungen hatte das Bundesverfassungsgericht der Regierung aber mit auf den Weg gegeben, als es im Februar über Hartz IV urteilte.
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte am 26. September angekündigt, den Regelsatz für Erwachsene um nur fünf Euro auf 364 Euro monatlich zu erhöhen. Für Kinder bleibt der Satz gleich. Sie erhalten weiterhin je nach Alter 215, 251 oder 287 Euro.
Was die statistischen Grundlagen, und da vor allem die für die Kinderregelsätze betreffe, sehe der Gesetzentwurf "so löchrig aus wie ein Schweizer Käse", sagte Schneider. Der Verband hat festgestellt, dass für die 14-18-Jährigen allein 75 der insgesamt 82 ermittelten Einzelpositionen für Konsumausgaben Positionen mit "hoher statistischer Unsicherheit" seien. Soll heißen: Die gewonnenen Stichproben in der Referenzgruppe waren so klein, dass sie unter Statistikern als "nicht valide" gelten, weil die mögliche Fehlerquote in der Berechnung zu hoch ausfällt. So geht aus dem Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums (BMAS) beispielsweise hervor, dass weniger als 25 Haushalte im Erhebungszeitraum von drei Monaten ein Fahrrad gekauft haben. Wie viel Geld diese wenigen Haushalte dafür im Durchschnitt ausgegeben haben wird, anders als bei Posten, für die größere Stichproben vorliegen, im Gesetzentwurf nicht aufgeführt. Das BMAS jedoch kennt die Zahl - und leitet aus ihr einen Geldbetrag ab, den sie den 14- bis 18-Jährigen zuspricht.
"Eine geschüttelte Zahl", nennt Schneider das. Die Datengrundlage sei alles andere als "verlässlich" oder "realitätsgerecht". Das sehe man auch daran, dass die Ermittlung des Regelsatzes für 14- bis 18-Jährige auf insgesamt nur 168 Haushalten basiere. Für Kinder bis sechs Jahre fußen die Berechnungen auf 237 Haushalten, für 6 bis unter 14-Jährige auf 184 Haushalten. Bei den Erwachsenen liegt der Wert am höchsten, nämlich bei 1.678 Haushalten.
Die Schlussfolgerung des Paritätischen: Die EVS sei so, wie sie angewandt werde, nur "sehr eingeschränkt zur Errechnung der Kinderregelsatzes brauchbar". Genau diese Frage werde im Falle einer Klage sicher auch vom Bundesverfassungsgericht geprüft, sagte Schneider. So stünden für Babys beispielsweise im Monat nur 6,93 Euro für den Kauf von Windeln zur Verfügung. Solche Werte sicherten nicht das Existenzminimum.
Doch auch bei den Erwachsenen ist die Datengrundlage zum Teil problematisch. Weil die EVS nur drei Monate lang erhoben wird, sind Ausgaben für etliche Posten von weniger als 25 Haushalten getätigt worden. Zum Beispiel für Waschmaschinen, Kühlschränke oder Gefriertruhen. Die Regierung berücksichtige für solche Posten Beträge im Regelsatz, "die in keinem Verhältnis zu den Kosten stehen, die für die tatsächlichen Anschaffungen anfallen würden", sagte Schneider. Das Problem könne gelöst werden, indem man Dinge wie Waschmaschinen, Kühlschränke oder Fahrräder aus dem Regelsatz heraus nehme und erneut als einmaligen Bedarf gewähre, argumentiert man im Paritätischen.
Kritik übte Schneider zudem an der vom BMAS neu gewählten Referenzgruppe. Statt wie früher die unteren 20 Prozent der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten und in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ermittelten Haushalte hatte das Bundesarbeitsministerium nur noch die untersten 15 Prozent herangezogen, um daraus den Regelsatz für Erwachsene abzuleiten. Dies werde jedoch an keiner Stelle des neuen Gesetzentwurfs wissenschaftlich fundiert begründet, "ist also weder sachgerecht noch nachvollziehbar", so sein Urteil. Keine wissenschaftlich fundierte Begründung gebe es zudem dafür, dass zur Ermittlung der Erwachsenenregelsätze die Referenzgruppe zu 15 Prozent berücksichtigt werde, die Referenzgruppe Familie mit einem Kind zur Ermittlung der Kinderregelsätze aber weiterhin mit 20 Prozent. "Ich habe den Eindruck, dass jetzt erst so langsam im Ministerium durchdringt, dass die Plausibilitätsbegründung nicht trägt", kommentierte Schneider.
Durch die neue, 15-prozentige Rechengrundlage wird die Grenze des Einkommens, das für die Berechnung des Regelsatzes eines Erwachsenen heran gezogen wird, gedrückt. Laut BMAS liegt der Grenzwert aktuell bei 901 Euro. Ziehe man jedoch zum Vergleich die alte EVS von 2003 und das damalige Kriterium von 20 Prozent heran, liegt der Grenzwert laut Paritätischem "deutlich höher", nämlich bei 940 Euro. Wie hoch der Grenzwert für 20 Prozent bezogen auf die EVS 2008 ausfallen würde, kann derzeit nicht berechnet werden, da das BMAS die entsprechenden Daten nicht freigegeben hat.
Der Wohlfahrtsverband präsentierte am Freitag auch Alternativberechnungen. Demnach müsste der monatliche Regelsatz für Erwachsene auf 415 Euro steigen. Der Wert kommt zustande, in dem durch eine Hochrechnung annähernd die 20- statt 15-prozentige Referenzgruppe als Grundlage abgebildet werde. Zudem sind in den 415 Euro Ausgaben für Alkohol und Tabak (rund 20 Euro), aber auch für Campingausrüstung oder Gartenwerkzeug enthalten. Auch für den monatlichen Besuch einer Gaststätte oder Kantine setzt der Paritätitsche mehr als das BMAS an: 21 Euro statt 7,16 Euro. "Es gehört auch mal zum Leben dazu, auswärts zu essen", begründete Rudolf Martens, Leiter der Forschungsabteilung des Paritätischen, den höheren Betrag. Das BMAS hatte lediglich den Warenwert verzehrter Speisen und Getränke in Rechnung gestellt, weil "eine auswärtige Verpflegung als nicht existenzsichernd anzusehen ist", wie es im Gesetzentwurf heißt.
Martens monierte auch die Berechnungsweise in punkto Alkohol und Tabak: Selbst wenn man für diese Waren kein Geld zugestehe, sei die statistische Vorgehensweise des BMAS kritikwürdig. "Wenn ich die ganze Gruppe einfach rausnehme, verändere ich die Stichprobe. Fair wäre es also gewesen, bei den enthaltsamen Haushalte zu schauen, wofür diese die 20 Euro ausgeben. Denn in den niedrigen Einkommensgruppen wird das Geld ja nicht gespart."
Unterdessen wies der Unions-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder (CDU) die Forderung aus der Opposition nach einer Korrektur der Hartz-IV-Reform scharf zurück. "Der Regelsatz ist gerecht errechnet und darum muss es bei ihm bleiben", sagte Kauder dem "Hamburger Abendblatt" in der Montagsausgabe laut einem Vorabbericht. "Verhandlungen wie auf einem Basar wären nicht sachgerecht. Es muss uns doch vor allem darum gehen, die Hartz-IV-Empfänger in Arbeit zu bringen." Damit Hartz IV nicht zu einem Dauereinkommen werde, müsse der Hinzuverdienst neu organisiert werden. "Je höher der Verdienst aus regulärer Arbeit ist, desto mehr soll dem Arbeitslosen davon bleiben", forderte Kauder. Wer Hartz IV bekommt, darf von einem Hinzuverdienst derzeit nur 100 Euro ungeschmälert behalten. Was darüber liegt, wird zu 80 Prozent mit der staatlichen Unterstützung verrechnet.
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