: Krise der Kritik
Während dem Gesellschaftskritiker von einst aus bundesrepublikanischem Munde allenthalben das „Geh doch in den Osten!“ entgegenschlug, so scheint heute selbst diese reduzierte Form der Auseinandersetzung nicht mehr möglich. Im Zuge des sogenannten Bankrotts des realexistierenden Sozialismus sieht sich der/die BRDlerIn nunmehr in ungekannter Weise darin bestätigt, daß diese „erste“ westliche Welt auch die beste aller möglichen Welten sei. Nie war die Anmaßung des Westens größer, nie wurde sie weniger als eine solche empfunden, nie war der Standort der Kritik so abseits wie heute.
Der/die kritische „Intellektuelle“ in der Bundesrepublik, das war seit eh und je mit Ausnahme der 68er Jahre, aber dafür hernach um so mehr - der/die Narr/Närrin, getragen von den Stützen der Gesellschaft für ein Stückchen genießbarer Polemik hier, für ein wenig erbauliche Feierabendutopie dort. Jetzt, da die Marktwirtschaft den Wettlauf mit dem Osten endgültig gewonnen zu haben scheint, sind selbst diese quasi-autistischen Praktiken schal geworden. In der neuen Selbstgenügsamkeit des Westens will man keine NestbeschmutzerIn mehr. Der goldene Pott aus freier Marktwirtschaft und repräsentativer Demokratie, er soll glänzen ewiglich.
Eine Krise der Kritik ohnegleichen tut sich auf. Und dabei besteht doch gerade jetzt die Möglichkeit zu einer konkreten Alternative. In der DDR, wo zur Zeit alles offen ist, wo man um eine alternative Ordnung ringt, die sich sowohl vom SED -Regime als auch von der westdeutschen Gesellschaftsform unterscheidet, dort ist der Ort sinnvoller gesellschaftlicher Arbeit, dort entscheidet sich das Schicksal einer radikalen humanistischen Kritik, die sich mit dem in der Bundesrepublik Bestehenden niemals zufrieden geben kann. Vielleicht gilt es deshalb gerade heute, die abschätzige „Fahrkarte in den Osten“ von einst dankend anzunehmen.
Johann von Düffel, Freiburg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen