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Kriegsgräber gegen BahnwerkstattDie Macht der Toten

Auf dem sogenannten Russenfriedhof in Bremen sind weitere Skelette von sowjetischen Kriegsgefangenen entdeckt worden.

Skelette gefunden: Ausgrabungen in Bremen-Oslebshausen Foto: Kay Michalak/Fotoetage

Hamburg taz | einer Ausgrabungsstätte in Bremen sind in Massengräbern die Überreste von 60 sowjetischen Kriegsgefangenen entdeckt worden. Das Gelände, auf dem die Gräber liegen, ist Gegenstand einer hitzigen Debatte, denn der Senat möchte dort eine Bahnwerkstatt errichten.

Noch am Montag hatte es von offizieller Stelle geheißen, die Zahl der neu entdeckten Skelette auf dem „Russenfriedhof“ im Bremer Stadtteil Gröpelingen sei auf 30 gestiegen. Bereits am Dienstag jedoch lag sie bei etwa 60. Insgesamt sind in den vergangenen Wochen vier weitere Massengräber auf dem ehemaligen Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene im Ortsteil Oslebshausen entdeckt worden.

Die Bestattungsfläche befindet sich an der Straße Reitbrake in der Bremer Gleisschleife. Die Sowjetsoldaten, die hier von den Nationalsozialisten verscharrt wurden, sind vermutlich meist Ermordete aus einem nahe gelegenen Zwangsarbeitslager, viele könnten einer Typhusepidemie zum Opfer gefallen sein.

Lange hat der Friedhof brach gelegen, wurde mit der Zeit von Sand aus der Weser und Erde überlagert. Über einen Meter tief liegen die Skelette heute, sodass Bagger zu Hilfe genommen werden mussten. Seit etwa einem Jahr wird auf dem Landstück nördlich der Bremer Innenstadt gegraben. Die Ausgrabung wurde durch die Pläne des Senats angestoßen, dem französischen Schienenfahrzeugherstellers Alstom das Areal für die Errichtung eines Ausbesserungswerks zur Verfügung zu stellen. Zwei Bür­ge­r:in­nen­ini­tia­ti­ven stellen sich dagegen: der Bau sei völkerrechtswidrig, argumentieren sie.

Kriegsgräber haben unbegrenztes Ruherecht

Solange sich Leichname oder ihre Überreste auf dem Gelände befinden, gilt es formal als Kriegsgräberstätte und genießt besonderen Schutz. Die Grabstätten haben ein zeitlich unbegrenztes Ruherecht. Laut dem „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ benötigt eine Umbettung von Kriegsgräbern das Einverständnis beider jeweiligen Länder.

Grundsätzlich steht dieser Erlaubnis, zumindest von russischer Seite, nichts entgegen. Damit das Gelände bebaut werden darf, sei jedoch die Exhumierung und Umbettung aller Leichname zwingend erforderlich, da es sonst weiterhin als geschützte Kriegsgräberstätte gelte, sagt Lena Riecke, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Humanitäres Völkerrecht der Universität Leiden in den Niederlanden.

Genau das könnte ein großes Problem für die geplante Bebauung darstellen. Denn die genaue Zahl der Menschen, die dort begraben liegen, ist nicht bekannt. 1948 sind 446 Leichen exhumiert und auf den Friedhof Osterholz umgebettet worden. Sie waren bereits stark verwest, da sie nicht vorschriftsmäßig in Holzkisten, sondern lediglich in Teerpapier gewickelt vergraben worden seien, wie Recherchen des Vereins „Erinnern für die Zukunft“ ergaben. Laut einem Mahnmal mit russisch-orthodoxer Symbolik auf der Ausgrabungsstätte liegen dort 1.000 Menschen begraben. In einem Polizeibericht von 1946 ist von 742 Gräbern die Rede. Zieht man die 446 Leichname ab, die bereits nach Bremen-Osterholz umgebettet wurden, wären in jedem Fall also noch mehrere Hundert nicht gefunden.

Offiziell war die Reitbrake schon seit der Exhumierung 1948 keine völkerrechtlich geschützte Kriegsgräberstätte mehr. Mit der Entdeckung der mittlerweile etwa 60 Skelette, wird sich das ändern müssen. Der bereits kurz nach Kriegsende stark verweste Zustand der Leichname lässt darüber hinaus die Vermutung zu, dass nicht alle von ihnen gefunden und umgebettet werden können, selbst wenn ihre genaue Zahl bekannt würde.

Der Alstom-Konzern, der auf dem Gelände bauen will, ist Rechtsnachfolger eines Unternehmens, das Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen ausgebeutet und Güterwaggons für den Holocaust geliefert hat

Landesarchäologin Uta Halle hat bereits Knochen wie Finger, Kniescheiben oder einen Arm gefunden, die nur vereinzelt auffindbar waren. Sollten manche der Toten des „Russenfriedhofs“ bereits gänzlich verwest sein, sodass eine Umbettung unmöglich wäre, bliebe die Grabstelle irreversibel eine geschützte Kriegsgräberstätte, sagt Völkerrechtlerin Riecke. In diesem Fall wäre das Bauvorhaben vom Tisch.

Insgesamt ist das Landstück, auf dem die Ermordeten begraben wurden, 20.000 Quadratmeter groß. Weitere Gräber könnten sich außerhalb des Kernfriedhofs befinden. Geg­ne­r:in­nen der geplanten Bahnwerkstatt fordern deswegen, das gesamte Gebiet untersuchen und aufgraben zu lassen. Nach den neuesten Entdeckungen, wird daran für den Bremer Senat kaum ein Weg vorbeiführen.

Eine unvollständige Exhumierung wäre ein „völkerrechtlicher Skandal“, sagt Dieter Winge von der Bür­ge­r:in­nen­in­itia­ti­ve „Oslebshausen und Umzu“. Auch, da der Alstom-Konzern, der die Bahnwerkstatt bauen soll, die Rechtsnachfolgerin der Linke-Hofmann-Werke sei. Das „kriegsverbrecherische Unternehmen“ habe Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen beschäftigt und die für den Holocaust symbolträchtigen Güterwaggons hergestellt, so Winge.

Die Stadt nimmt die rechtlichen Gegebenheiten offenbar inzwischen an. Die Ausgrabungen zumindest seien „noch lange nicht fertig“, betont Landesarchäologin Halle. Sie geht davon aus, dass die Zahl der gefundenen Leichname in den kommenden Wochen weiter steigt. Am Dienstag stellte sie in einer öffentlichen Sitzung der Bremer Kulturdeputation die neuesten Ausgrabungs-Ergebnisse vor. Vom dem Sitzungsteil, in dem Fotos der Leichname gezeigt wurden, war die Öffentlichkeit aus „ethischen Gründen“ jedoch ausgeschlossen, so Halle. Zuvor war es zu Streitigkeiten zwischen den Bür­ge­r:in­nen­in­itia­ti­ven und der Stadt gekommen, weil nicht autorisierte Bilder der Ausgrabungsstätte in der Tageszeitung Junge Welt aufgetaucht waren.

Ein großer Handlungsspielraum bleibt dem rot-rot-grünen Senat nicht. Zumindest bleibt der Bremer Regierung genug Zeit, um das umstrittene Bauvorhaben zu überdenken.

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